Kaum dass sie alleine waren, begann Markby seine neue Kollegin zu mustern, wobei er feststellte, dass sie dasselbe mit ihm tat. Er wandte die Augen ab.
»Ich könnte einen Kaffee vertragen, um den Geschmack vom letzten zu vertreiben, den man mir drüben im Leichenschauhaus serviert hat. Warum leisten Sie mir dabei nicht Gesellschaft? Nicht hier in der Kantine. Auf der anderen Straßenseite gibt es ein Lokal.«
»Besserer Kaffee?«, fragte sie.
»Keine Polizisten, die mir in die Tasse gucken«, antwortete er. Sie sah aus, als wollte sie lächeln. So weit kam es nicht, aber immerhin entspannten sich ihre Gesichtszüge ein wenig. Markby fragte sich, ob sie immer so angespannt war, und hoffte inbrünstig das Gegenteil. Das Café war nüchtern eingerichtet, doch der Kaffee schmeckte ausgezeichnet. Solange Markby sich erinnern konnte, war das Lokal nie gut besucht gewesen, was das Management allerdings nicht zu kümmern schien. Zu manchen Zeiten weckte das das Misstrauen in dem Polizisten Markby. Zu anderen Zeiten sagte er sich, dass er endlich aufhören musste, überall dunkle Machenschaften zu wittern.
»Doppelleben!«, sagte er unvermittelt.
»Sir?« Helen Turner blickte ihn verblüfft an.
»Alle möglichen Leute führen ein Doppelleben. Hatten Sie bereits Gelegenheit, den Leichnam zu sehen?« Sie zögerte.
»Ja, hatte ich. Wie Superintendent Norris bereits sagte, dieser Fall wird großes Aufsehen erregen, nicht wahr? Weil das Mädchen so jung war, meine ich.«
»Jung, aber nicht notwendigerweise unschuldig. Sie sieht jedenfalls jung genug aus, um noch zur Schule zu gehen. Doch in ihrer Freizeit hat sie Männerbekanntschaften gesucht, ist in Lokale gegangen oder hat Dinge getan – wir wissen noch nicht genau, was –, die zu ihrer Ermordung geführt haben.« Sie antwortete nicht darauf, sondern rührte in ihrem Kaffee, obwohl er schwarz und ohne Zucker war. Ich hoffe wirklich, dass sie sich etwas mehr entspannt, dachte Markby erneut und ein wenig ärgerlich. Er sah auf und begegnete ihrem Blick: graue Augen mit dunklen Wimpern. Ziemlich hübsche Augen. Ihr Haar war für seinen Geschmack zu kurz geschnitten. Sie sah wie halb skalpiert aus. Das ist unverhohlen sexistisches Denken, schalt er sich. Ihr Haarschnitt entsprach wahrscheinlich der gegenwärtigen Mode. Vielleicht mochte sie seine Frisur nicht oder irgendetwas anderes an ihm. Vielleicht war es gar keine Nervosität, die zu diesem steifen Verhalten führte. Vielleicht war es Abneigung.
»Liegt es an mir?«, fragte er unvermittelt.
»Liegt was an Ihnen?«, rief sie erschrocken und fügte ein wenig verspätet
»Sir?«, hinzu.
»Sie müssen nicht ständig ›Sir‹ zu mir sagen. Ich meine, mache ich Sie nervös?« Sie stellte ihre Tasse ab.
»Mir war nicht bewusst, dass es so offensichtlich ist.« Sie suchte nach Worten.
»Ein neuer Fall, eine neue Stadt, ein neuer Chef …«
»Wenn Sie Bamford erst gesehen haben, werden Sie feststellen, dass es ein ziemlich kleines, stilles Plätzchen ist.« Markby redete hastig weiter.
»In den letzten Jahren wurde zwar viel gebaut, aber im Grunde genommen ist es immer noch ein Marktflecken.«
»Donnerstag«, sagte sie.
»Donnerstags ist Markttag.« Jetzt war er an der Reihe, überrascht zu sein.
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, wie ich sehe.« Sie errötete.
»Ich bemühe mich jedenfalls immer. Und … und die Leute haben mir erzählt …«
»Reden Sie nur weiter.« Es war kaum nötig. Die grauen Augen sagten alles. Er konnte sehen, wie sie sich um eine schickliche Antwort bemühte.
»Die Leute haben Ihnen von mir erzählt?«, half er ihr.
»Ein wenig«, gestand sie.
»Oh, nichts Besonderes. Nur dass … dass Sie Bamford als Ihr Revier betrachten und … und dass Sie die Dinge gerne auf Ihre Weise erledigen.«
»Tatsächlich? Ich würde zwar nicht … nun ja, vielleicht stimmt es. Falls Sie ein Problem damit haben, sagen Sie es. Ich meine das wörtlich. Nur heraus mit der Sprache!« Sie errötete; es war ein hübscher Farbton, der allerdings gar nicht zu ihrem Pullover passte.
»Vielleicht wollen Sie keinen weiblichen Sergeant als Assistenten? Trotzdem hoffe ich, dass Sie meine Loyalität nicht in Frage stellen – Sir!« Markbys Augenbrauen schossen in die Höhe. Warum musste sie so unverblümt auf die Geschlechterfrage hinweisen?
»Es macht mir nichts aus, dass Sie eine Frau sind – vorausgesetzt, es macht Ihnen nichts aus!«, entgegnete er.
»Ich verlange von einem Beamten, gleich ob männlich oder weiblich, nicht mehr und nicht weniger, als dass er seine Arbeit tut. Loyalität, so hoffe ich doch, kann ich als Voraussetzung betrachten!« Die Antwort war möglicherweise ein wenig heftig, doch wenn sie schon so begierig darauf war, genauso wie ihre männlichen Kollegen behandelt zu werden, dann musste sie in Kauf nehmen, dass er auch so direkt zu ihr war wie zu einem Mann.
»Jedenfalls«, fuhr er sanfter fort,
»sollten wir uns zuerst um die wichtigsten Dinge kümmern. Wir müssen ein Zimmer in Bamford für Sie finden, wo Sie bleiben können.«
»Oh, man hat mir bereits ein Zimmer besorgt, bei einer Lady namens Mrs. Pride.«
»Sehr schön. Dann gehen Sie jetzt auspacken und melden sich bei mir, sobald Sie fertig sind. Wir sollten uns um eine rasche Identifikation der Toten bemühen. Außerdem wartet die äußerst angenehme Aufgabe auf uns, zuzusehen, wie Dr. Fuller sie aufschneidet.« Natürlich war wieder einmal Freitag, und jegliche Pläne für das Wochenende waren ruiniert. Markby fragte sich, ob Turner am Wochenende bereits etwas vorgehabt hatte – falls ja, so hatte es sich soeben in eine hübsche Staubwolke aufgelöst. Nur gut, dass er noch nichts mit Meredith verabredet hatte! Meredith! Schön, er hatte Turner versichert, dass er nichts dagegen hatte, mit einer Frau zu arbeiten – doch er wusste nicht, wie Meredith auf diese Neuigkeiten reagieren würde. Andererseits war sie selbst eine erfolgreiche Karrierefrau und würde Helen Turner als Assistentin wahrscheinlich gutheißen. Wie dem auch sein mochte, da war noch etwas anderes, das an ihm nagte, etwas, das mit Meredith zu tun hatte …
»Wo, sagten Sie noch gleich, liegt Ihre Pension?«
»Station Approach. Wenn ich recht informiert bin, hat Mrs. Pride schon früher Angehörige der Polizei beherbergt. Kennen Sie es?«
»Ja«, sagte Markby schwach.
»Ich kenne es.« Das würde seiner Beziehung zu Meredith auf die Sprünge helfen! Sie mochte vielleicht keine Einwände gegen Helen Turner als seine Assistentin haben, aber Tür an Tür mit Meredith wohnen? Das würde ihr ganz bestimmt nicht gefallen! KAPITEL 5 Meredith stolperte durch ihre Haustür, die Aktentasche unter dem Arm, und trat die Schuhe in die Ecke. Die Heimfahrt freitagabends war immer eine Tortur, doch an diesem Abend war
»wegen personeller Unterbesetzung« ein früherer Zug gestrichen worden und der nachfolgende konsequenterweise mit schlecht gelaunten Pendlern vollgestopft. Sie hob eine Handvoll Briefe von der Fußmatte auf und zog gerade umständlich den Mantel aus, als auch schon das Telefon klingelte. Sie klemmte sich den Hörer unter das Kinn und blätterte durch ihre Post, während sie sich meldete:
»Hallo? Oh, Alan. Hi.« Seine Stimme klang ein wenig besorgt. Bevor sie Zeit fand, sich nach dem Grund zu fragen, erfuhr sie ihn auch schon von ihm. Merediths protestierender Ausruf hallte durch die winzige Diele.
»Willst du damit sagen, dass sie direkt neben mir wohnen wird? Nur durch eine Wand getrennt, und sie kriegt jedes Mal mit, wenn du kommst und gehst?«
»Ich kann doch nichts dafür! Ich habe einen Mordfall auf dem Schreibtisch! Ich brauche Turner! Wie dem auch sei, ich hätte heute Abend Zeit für einen Drink, falls du Lust hast, mich gegen acht Uhr im Bunch of Grapes zu treffen. Nein, warte – besser, wir treffen uns in einem Pub, das nicht direkt im Stadtzentrum liegt.«
»Das ist einfach lächerlich, Alan!«
»Lieber Vorsicht als Nachsehen. Sieh mal, es ist doch nur, bis ich Turner erklären kann …«
»Hör auf, sie immer ›Turner‹ zu nennen! Das klingt, als würdest du über den Künstler reden, der den ›Brand des Londoner Parlamentsgebäudes‹ gemalt hat! Besitzt sie denn keinen Vornamen?«
»Hör mal«, sagte er.
»Können wir uns nicht einfach in einem Lokal verabreden und dort alles Weitere besprechen? Kennst du das Silver Bells? Es liegt direkt am Stadtrand, vor dem Neubaugebiet. Es ist ein hübsches altes Pub.«
»Ich kenne es. Aber ich weigere mich, mich vor Sergeant Turner oder sonst irgendjemandem zu verstecken! Wie lange sollen wir denn deiner Meinung nach mit hochgeschlagenen Mantelkragen in Bamford herumschleichen und tun, als seien wir Fremde?«
»Du bist unsachlich, Meredith.«
»Was meinst du mit ›unsachlich‹?«, entgegnete Meredith streitlustig.
»Außerdem habe ich gerade eine lausige Heimfahrt hinter mir, und ich muss überhaupt nicht sachlich sein!« Es war schließlich nicht so, als hätte er ihr einen triftigen Grund geliefert, an einem kalten Abend noch einmal vor die Tür zu gehen und auf der anderen Seite der Stadt in einem Pub zu sitzen. Warum nahm sie nicht einfach ein ausgedehntes heißes Bad und lümmelte sich dann vor dem Kamin und dem Fernseher auf das Sofa?
»Kommst du nun zum Silver Bells oder nicht?«, hakte er ungeduldig nach. Die Chancen standen nicht schlecht, dass sie sich im Lauf der nächsten halben Stunde weit genug erholt hatte, um auszugehen. Meredith warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Also schön! Sagen wir halb neun. Ich weiß, wo es ist. Bis später!« Sie legte auf. Warum nur kam es ihr vor, als würden sie sich immer in irgendwelchen Pubs treffen? Weil Bamford eine kleine Stadt auf dem Land war, darum. Die Kultur drehte sich um Pubs. Es waren die einzigen Treffpunkte, die neutralen Boden darstellten und keine besondere Qualifikation zum Einlass erforderten. Auf dem Kontinent gab es Cafés. Hier bot die Vielzahl von Pubs und Kneipen eine tröstliche Anonymität. Genau wie die Revolverhelden des alten Wilden Westens an der Saloontür der besseren Etablissements ihre Waffen abgegeben hatten, so ließen die Menschen in den Pubs landauf, landab ihre Hemmungen und Sorgen an der Tür zurück. Sie hängten sie zusammen mit den nassen Regenmänteln an den Haken und dachten erst wieder daran, wenn sie das Pub verließen. Meredith stieg die schmale Treppe hinauf, um ein verkürztes Bad zu nehmen. Als sie in der Wanne saß, hörte sie Wasser durch die Rohre auf der anderen Seite der Trennwand laufen, in Mrs. Prides Badezimmer. Wahrscheinlich kletterte Markbys neue Assistentin, diese Sergeant Turner, gerade aus der Wanne. Meredith widerstand dem Impuls, wütend mit den Fäusten gegen die Fliesen zu hämmern. Sie war nicht sicher, warum sie beschloss, zu Fuß zum Silver Bells zu laufen. Vielleicht waren es die Erinnerung an die Fahrt im vollgestopften Zug und ein unterdrücktes Verlangen, die Glieder zu bewegen und ein wenig an die frische Luft zu kommen. Alan war bestimmt mit dem Wagen da und konnte sie nach Hause fahren. Es war erst zehn nach acht, und ihr blieben zwanzig Minuten – reichlich Zeit. Doch sie war noch nie um diese Jahreszeit und nach Einbruch der Dunkelheit durch die Stadt gelaufen, wenn die meisten Menschen im Warmen und zu Hause saßen. Falls nötig, wie beispielsweise am Abend zuvor, hatte sie stets den Wagen genommen und war sicher und behaglich zu ihrem Ziel gefahren. Nicht einmal kam ihr der Gedanke, dass der kurze Spaziergang durch die frische Luft etwas anderes als die ihr inzwischen vertrauten Wegpunkte von Bamfords malerischen, freundlichen Straßen zutage fördern könnte. Sie kannte schließlich diese Stadt! Jetzt jedoch stellte sie einigermaßen schockiert fest, dass sie Bamford überhaupt nicht kannte – oder zumindest nicht wusste, in was die kleine Stadt sich nach Einbruch der Dunkelheit für all diejenigen verwandelte, die zu Fuß unterwegs waren. Mit Einbruch der Nacht trat eine andere Welt zutage, eine Welt, in der Meredith sich als Fremde wiederfand und in der sie sich zu ihrem großen Erstaunen höchst unbehaglich und verwundbar fühlte. In der Innenstadt Londons kannte sie sich aus, dort gab es im Übermaß Leuchtreklamen, Straßenlaternen und helles Licht. Bamford bei Nacht war ein verlassenes und finsteres Kaff. Die Fenster waren mit Vorhängen oder Läden gegen neugierige Blicke von draußen gesichert, der Wind pfiff kalt um Merediths Ohren, und sie zog die Schultern hoch und eilte über nasses, gesprungenes, schlüpfriges Pflaster. Sie suchte die High Street, in der Hoffnung, dort Leben und Gesellschaft zu finden. Doch die meisten Läden waren dunkel, mit schweren eisernen Gittern verhangen. In anderen brannten schwache Notbeleuchtungen, und die Straße lag verlassen. Das Gefühl, allein zu sein, wurde noch stärker. In den einsamen und dunklen Eingängen raschelte Abfall, als Meredith vorübereilte. Das Geräusch ließ sie zusammenzucken, und sie begann sich dunkle Gestalten einzubilden, die hinter ihr her waren. Ein paar vereinzelte Fahrzeuge fuhren vorbei, die meisten davon Taxis. Busse verkehrten schon kurz nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr. Und doch gab es Menschen. Meredith war nicht allein. Aber was für Leute waren das? In dieser veränderten Welt bewegte sich eine eigenartige Bevölkerung, jung und laut, die das Stadtzentrum in kleinen Banden durchstreifte, Bierdosen durch die Gegend trat, anderen Banden etwas über die Straße hinweg zurief. Ein paar Jahre älter nur als ihr Publikum im Kirchensaal, aber ganz eindeutig wesentlich erfahrener. Woher kamen sie alle? Wohin wollten sie? Ihre verkniffenen Gesichter wirkten fahl und ungesund im fluoreszierenden Schein der Straßenlaternen und doch lebendig, mit einer schwelenden animalischen Vitalität. Sie starrten Meredith mit spöttischer Neugier an, als sie vorbeiging, bis sie sich lächerlich und fehl am Platz fühlte und wütend wurde. Unvermittelt rannte sie in zwei Jugendliche, die aus einer Seitenstraße gekommen waren. Es war alleine Merediths schlechter Stimmung zuzuschreiben, dass sie fauchte:
»Passt doch gefälligst auf!« Wie verblüfft war sie jedoch, als sie plötzlich ihren Namen hörte.
»Meredith? Wir sind es, Katie und Josh!« Meredith kniff die Augen in der Dunkelheit zusammen.
»Was macht ihr beiden denn jetzt noch auf der Straße?«
»Wir wollen zu einem Konzert.« Sie klangen enthusiastisch, als wären sie sich ihrer tristen Umgebung nicht bewusst.
»Was denn, in Bamford? Was ist das für ein Konzert?«
»Ein Rock-Konzert. Im Jugendclub. Dort gibt es einen kleinen Saal, wo jeden Freitagabend Live-Musik gespielt wird. Es sind nur einheimische Gruppen, sicher, aber sie sind ziemlich gut. Für Bamford jedenfalls.« Josh schob seine Brille zur Nasenwurzel hinauf.
»Ich verstehe.« Mutlos erkannte Meredith, dass selbst diese beiden hier, so freundlich und normal sie auch erscheinen mochten, Teil jener fremdartigen Jugendkultur waren, die sie so verwirrte. Im schwefelgelben Licht der Straßenlaternen spiegelten ihre Gesichter die reine, unschuldige Freude darüber, dass sie ausgehen und ihre Freiheit genießen konnten. Dann fiel Meredith ein, dass Katie ein gutes Stück weit außerhalb der Stadt lebte, und sie fragte:
»Und wie kommst du hinterher nach Hause?«
»Ich rufe an, und Daddy holt mich ab, genau wie nach Ihrem Vortrag im Kirchensaal. Es macht ihm nichts aus. Wenn er nicht kann, rufe ich ein Taxi. Es gibt genug davon.« Die Selbstsicherheit, die ihre Worte verrieten, passte nicht so recht zu ihrem jugendlichen, unschuldigen Gesicht.
»Und Sie? Gehen Sie auch aus?«, fragten beide im Gegenzug.
»Ich?«, antwortete Meredith dümmlich.
»Ich treffe mich mit einem Freund.«
»Oh, großartig! Na dann viel Spaß noch!« Sie winkten und trabten fröhlich davon, ihrem
»Live-Konzert« entgegen. Meredith legte den restlichen Weg zum Silver Bells in verschärften Tempo zurück. Das Lokal war außen mit roten und gelben Lichterketten behängt. Es war ein altes Gebäude mit einer langen, unregelmäßigen Front, die den Gedanken nahe legte, dass wenigstens ein Teil des Hauses früher als Stall gedient hatte und erst in späterer Zeit für Menschen hergerichtet worden war. Die oberen Fenster waren durch vorstehende Dachgesimse verborgen, und das gemalte Schild schaukelte im abendlichen Wind. Es zeigte ein Pony mit silbernen Glöckchen am Zaumzeug. Das Äußere des Gasthauses sah aus, als sei es erst kürzlich renoviert worden. Drinnen herrschte offensichtlich kein großer Betrieb; nur wenige Fahrzeuge standen auf dem Parkplatz. Wenigstens war Alans Wagen darunter. Meredith öffnete die Tür und wurde von einem Schwall warmer, bierhaltiger Luft getroffen. Alan saß in einer abgelegenen Ecke neben einem knisternden Feuer, das in einem riesigen offenen Kamin loderte. Er stand auf, um sie zu begrüßen.
»Ich bin zu Fuß gekommen«, sagte sie.
»Ich hoffe, ich bin nicht zu spät.«
»Warum um alles in der Welt zu Fuß? Ich hätte vorbeikommen und dich abholen können.«
»Ich weiß. Ich hatte Lust, zu Fuß zu gehen. Eine dumme Idee, wie ich gestehe.« Ein wenig später, als er ihr einen Drink gebracht hatte, sagte er:
»Tut mir wirklich Leid, dass ich dich so weit aus der Stadt bitten musste. Wir hätten uns selbstverständlich dort treffen können, wo wir uns immer treffen. Ich hatte nur keine Lust, irgendjemandem zu begegnen, den ich kenne – ich wollte nicht nur Turner aus dem Weg gehen. Ihr Name ist übrigens Helen.«
»Schon gut, tut mir Leid, dass ich deswegen so aufgebraust bin. Außerdem ist es eine erfrischende Abwechslung, wenn wir uns nicht immer im gleichen Lokal treffen. Ein weiblicher Sergeant als Assistentin ist für dich sicher auch etwas Neues.« Er spielte mit seinem Glas.
»Ich muss ihr erklären, wie es mit uns steht. Pech, dass irgendjemand beschlossen hat, sie direkt neben dir unterzubringen. Ich hatte nichts damit zu tun. Nicht, dass ich irgendeine altmodische Furcht vor einem Skandal hätte – es ist wie bei dir; ich habe ein Recht auf mein Privatleben. Und Turner kann auch nichts dafür. Es ist einfach passiert, verstehst du?«
»Wie ist sie denn so?« Das klang unverhohlen neugierig, und Meredith tadelte sich augenblicklich dafür. Es war nur gut für Helen Turner, dass sie in einem Zweig der Polizei Karriere machte, der nicht gerade berühmt war für seine offene Einstellung Frauen gegenüber. Markby nippte an seinem Pint und nahm sich irritierend lange Zeit, bevor er antwortete.
»Ungefähr in deinem Alter. Schick gekleidet. Ich hatte noch nicht viel Zeit, mit ihr zu reden.«
»Oh! Na schön, dann muss ich halt hinter meinen Vorhängen stehen und Wache halten. Aber bei Mrs. Pride ist sie gut aufgehoben. Ich kenne das Haus, und es ist recht komfortabel eingerichtet. Mrs. Pride wird sich freuen, dass sie nicht mehr alleine wohnt. Ich denke, sie ist einsam. Sie erledigt eine Menge Gemeindearbeit für die Kirche.«
»Ach, wie war übrigens dein Vortrag? Gestern Abend, wenn ich mich nicht irre?«
»Es heißt, dass die Kinder sich sehr gefreut hätten. Ich weiß nur, dass ich so etwas nie wieder tun werde! Diese Kinder sind einfach unbeschreiblich! Sie haben mir richtig Angst gemacht! Mit Ausnahme von zweien.« Beim Gedanken an Katie und Josh runzelte sie die Stirn.
»Alan, würdest du sagen, dass Bamford nach Anbruch der Dunkelheit eine raue Stadt ist?« Er nahm sich Zeit, bevor er antwortete. Sie sah, wie seine Augen ernst wurden. Nachdenklich hob er eine Hand und strich sich das blonde Haar nach hinten, sodass es unordentlich von seinem Kopf abstand.
»Hättest du mir diese Frage gestern Abend oder sogar noch gleich heute Morgen gestellt, würde ich mit ›Nein‹ geantwortet haben. Ich dachte immer, wir hätten eine gesetzesliebende Gemeinde. Sicher, es gibt ein paar Raufbolde und die üblichen Ganoven, samstagabendliche Schlägereien und Bürger, die schon mal ein wenig über die Stränge schlagen, aber ich dachte immer, dass Bamford im Grunde keine gewalttätige Gemeinde sei. Das kann ich jetzt nicht mehr sagen. Es hat mit dem neuen Fall zu tun. Ein blutjunges Mädchen. So ein hirnloser und unnötiger Akt von Gewalttätigkeit! Sie war für niemanden eine Bedrohung. Seit ich sie mit eingeschlagener Schläfe dort auf dem Fußballplatz auf dem gefrorenen Boden liegen gesehen habe, frage ich mich ununterbrochen, ob ich bisher nicht einen wichtigen Aspekt von Bamford übersehen habe.« Er starrte düster vor sich hin.
»Vielleicht ist es rauer geworden, ohne dass ich etwas davon bemerkt habe! Ich hoffe sehr, dass wir auf der Bamforder Wache nicht zu selbstgefällig geworden sind! Vielleicht ist die ganze Gesellschaft schlimmer geworden.«
»Es tut mir Leid. Davon hatte ich noch nichts gehört. Aber ich habe auch noch mit niemandem gesprochen, seit ich von der Arbeit nach Hause gekommen bin.«
»Morgen weiß es die ganze Stadt. Norris schäumt und will unverzüglich Resultate sehen, er hat Angst wegen der öffentlichen Meinung. Wir haben das Mädchen bisher nicht einmal identifiziert!« In diesem Augenblick schien ihm eine Idee zu kommen. Er stellte sein Glas ab und suchte in seiner Brieftasche.
»Warte mal, du warst doch gestern Abend in diesem Jugendclub. Die Chance ist zwar klein, aber vielleicht hast du ja …« Er zog eine Fotografie aus der Brieftasche und reichte sie ihr.
»Kennst du dieses Gesicht? War sie unter deinem Publikum?« Meredith nahm das Bild entgegen und unterdrückte einen Schauder. Die Augen des Mädchens waren halb geschlossen, Lider hingen über blicklosen Augen, und über der linken Schläfe lag ein Tuch oder etwas Ähnliches. Sie sah tatsächlich sehr jung aus, und Meredith dachte unwillkürlich an Katies frisches junges Gesicht, so lebhaft und so selbstsicher. Es war ein Risiko gewesen, Meredith das Foto zu zeigen, das wusste Alan, und vielleicht war es auch ein Fehler. Sie reichte es ihm zurück und schüttelte den Kopf.
»Niemand, den ich wiedererkenne. Aber so ein junges Mädchen hat doch bestimmt eine Familie?«
»Sollte man meinen. Wenn wir Glück haben, melden sich ihre Angehörigen jeden Augenblick. Sie müssen sich inzwischen Sorgen machen, und sie hatten genügend Zeit, um bei ihren Freundinnen anzurufen. Ich trage das Foto nur bei mir, weil ich dachte, ich könnte in den Pubs herumfragen. Ich meine, sie durfte nicht in Gasthäusern verkehren, dazu war sie viel zu jung! Aber vielleicht war sie trotzdem dort. Sie war angezogen und geschminkt, als wäre sie zu einer Verabredung unterwegs gewesen.« Markby warf einen Seitenblick zur Bar, wo der Wirt untätig die Theke polierte und auf Kundschaft wartete.
»Wenn du mich entschuldigst – ich gehe kurz hin und frage den Wirt, ob er Einwände hat, wenn ich das Bild seinen Gästen zeige.«
»Ganz bestimmt sogar wird er etwas dagegen haben!«, murmelte Meredith, während sie ihm hinterhersah.
»Ein Gespenst auf dem Fest!« Im Kamin fiel ein verkohltes Holzscheit in sich zusammen und sandte einen Schauer glühender Funken zwischen den leckenden Flammen in die Höhe. Doch die kalte Hand des Todes hatte den warmen Raum des Lokals fest im Griff.
Terry Reeves blickte Markby misstrauisch entgegen.
»Was gibt’s, der Herr?«
»Sie sind Mr. Reeves, nicht wahr? Ich bin Detective Chief Inspector Markby.« Er stützte sich auf den polierten Tresen und schob vorsichtig den gläsernen Sammelbecher beiseite, der Kunden animieren sollte, Kleingeld für wohltätige Zwecke zu spenden.
»Das ist mir bekannt. Stimmt etwas nicht?« Reeves war ein stämmiger Mann mit kurz geschorenen Haaren und einem Gesicht, das irgendwie an eine Bulldogge erinnerte, besonders dann, wenn er den Unterkiefer vorschob und die dünnen Lippen schürzte.
»Nein, nein. Ich frage mich nur, ob Sie und Ihre Frau sich vielleicht kurz eine Fotografie ansehen könnten?« Der Wirt warf einen flehentlichen Blick die Theke entlang, doch kein neuer Kunde war in Sicht, der seine Aufmerksamkeit erfordert hätte.
»Daph? Kannst du für einen Augenblick herkommen?«, rief er.
»Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«, beobachtete Markby lächelnd.
»Ich?« Der Wirt blickte entsetzt drein.
»Nein. Ich bin in London geboren und aufgewachsen. Meine Frau kommt aus Bamford.«
»Ist das der Grund, aus dem Sie dieses Pub übernommen haben?«
»So ähnlich. Ich war bei der Army, Berufssoldat. Meine Zeit war um, und ich brauchte irgendeine zivile Beschäftigung. Ist nicht leicht heutzutage, und Daph … ihr Onkel hatte ein Pub, also dachte sie, warum nicht? Dieses Haus hier stand zum Verkauf. Die Brauereien waren nicht interessiert. Zu viel Aufwand, um es wieder auf Vordermann zu bringen, und es gab so gut wie keine Stammkundschaft. Wir waren überzeugt, dass wir das Geschäft zum Laufen bringen könnten. All die Leute in den neu gebauten Häusern, sie wollen nicht bis in die Stadtmitte laufen, um in ein Pub zu gehen.« Reeves blickte sich um.
»Wir müssen immer noch viel am Lokal tun, doch ohne eine Brauerei im Rücken mussten wir alles bei den Banken leihen. Wir haben mit der Küche angefangen, um die neuen gesetzlichen Hygienevorschriften einzuhalten, damit wir Essen servieren durften. Heutzutage muss man einfach Essen anbieten. Sie hätten den alten Plunder sehen sollen, den wir aus der Küche gerissen haben! Als würde jeden Augenblick Oliver Twist aus einem der Schränke fallen.« Mrs. Reeves, eine adrette Blondine, kam aus der Küche und stellte sich zu ihrem stämmigen Ehemann. Markby zog das Bild hervor, das er Meredith gezeigt hatte. Der Fotograf hatte sein Bestes getan, um das Mädchen halbwegs lebendig und unversehrt aussehen zu lassen, und die schwache Beleuchtung tat ihr Übriges. Doch an Merediths Reaktion hatte Markby gesehen, welche Wirkung das Bild trotz allem noch hatte. Er legte das Foto so auf den Tresen, dass die beiden Reeves’ es gleichzeitig betrachten konnten. Der Wirt erbleichte augenblicklich und zeigte mehr als bloßen Abscheu, und Markby wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
»Sie war letzte Nacht hier!«, platzte Daphne Reeves heraus.
»Sie …«
»Hältst du wohl die Klappe!«, unterbrach sie ihr Ehemann ungalant. Streitlustig musterte er Markby aus kleinen braunen Augen.
»Was hat das zu bedeuten? Wenn Sie mir sagen wollen, dass sie noch keine achtzehn ist, dann kann ich nur antworten, dass sie für mich wie achtzehn ausgesehen hat!« Daphne öffnete den Mund, doch dann überlegte sie es sich anders.
»Ich kann nicht rumgehen und mir von allen die Ausweise zeigen lassen!«, fuhr der in die Enge getriebene Wirt fort.
»Sie kommen aufgedonnert in mein Lokal! Was soll ich denken? Die Bar war voll, wir hatten alle Hände voll zu tun, oder vielleicht nicht, Daphne?«
»Ja«, sagte Mrs. Reeves pflichtschuldig. Beide blickten Markby herausfordernd an, Seite an Seite stehend, vor den Regalen voll glitzernder Gläser. Markby wartete einen Augenblick. Sein Schweigen brachte sie schließlich aus der Fassung. Daphne schlug verängstigt die Augen nieder.
»Wir wissen nichts über sie!«, sagte Terry Reeves zu guter Letzt.
»Haben Sie das Mädchen vor gestern Abend schon einmal gesehen?«
»Kann sein. Beschwören würde ich es nicht. Diese Stadt ist voller Jugendlicher. Sie sehen alle gleich aus. Schwarze Lederjacke, Jeans, Miniröcke, purpurne Haare.«
»Wie war sie angezogen?« Daphne Reeves antwortete.
»Sie war … raffiniert gekleidet. Auffällig. Kurzer Rock und ein kleines Top mit Knöpfen vorne, ein wenig zu tief ausgeschnitten.« Trotzig fügte sie hinzu:
»Ich hab sie schon früher hier gesehen, ein- oder zweimal. Aber wie Terry schon sagt, wir können uns nicht von allen die Ausweise zeigen lassen. Wir waren immer vorsichtig, so vorsichtig, wie es der Betrieb gerade zuließ.«
»Um welche Zeit ist sie gegangen?« Aus irgendeinem Grund schien diese Frage Besorgnis in ihnen zu wecken. Sie wechselten verstohlene Blicke.
»Kann ich nicht sagen«, antwortete Reeves und begann erneut, den Tresen zu wischen, mit langsamen, methodischen Bewegungen. Dabei vermied er es sorgfältig, das Foto zu betrachten, das noch immer dort lag.
»Kurz bevor wir die letzte Runde ausgerufen haben«, sagte seine Frau, und ihr Mann funkelte sie an.
»Allein?«
»Daph …«, murmelte Mr. Reeves.
»Ich … ich bin nicht sicher.« Röte stieg ihren Hals hinauf und färbte ihre Wangen. Markby überlegte, warum diese Frage den Wirt und seine Frau beunruhigte. Offensichtlich wussten beide etwas, das sie im Augenblick noch nicht zu erzählen bereit waren. Terry Reeves lehnte sich auf den Tresen.
»Hören Sie, warum unterhalten Sie sich nicht mit dem alten Barney Crouch? Vielleicht ist ihm etwas aufgefallen?«
»Oh? Wo kann ich diesen Mr. Crouch finden?«
»Sie müssen nur ein wenig warten. Er kommt jeden Abend, ohne Ausnahme. Einer der wenigen Stammgäste von früher. Wir haben ihn mit dem Pub übernommen. Wenn Sie ihm einen Scotch spendieren, erzählt Barney Ihnen alles, was Sie hören wollen.« Das klang nicht danach, als wäre Mr. Crouch ein idealer Zeuge. Markbys Gedanken schienen sich in seinem Gesicht gespiegelt zu haben, denn Reeves fügte hinzu:
»Sie können ihm glauben. Barney ist zwar ein alter Trunkenbold, aber sein Kopf ist immer noch klar. Ein gebildeter Mann, der gute alte Barney.« Eine kleine Gruppe von Gästen betrat das Lokal.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte der Wirt und ging entschlossen davon, um die Neuankömmlinge zu bedienen.
»Ich verstehe, dass Sie beschäftigt sind, Mrs. Reeves. Tut mir Leid, dass ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe«, entschuldigte sich Markby mit einem Lächeln. Daphne Reeves entspannte sich und erwiderte das Lächeln.
»Schon gut, kein Problem. Machen Sie sich keine Gedanken wegen Terry. Es regt ihn auf, wenn Kinder in das Lokal kommen. Man sieht es ihnen nicht an, wissen Sie, aber wir geben uns Mühe. Wir haben all unsere Ersparnisse in dieses Lokal gesteckt.«
»Ja. Ich frage mich, ob ich vielleicht morgen früh auf ein Wort vorbeikommen könnte? Ich würde bei Ihnen sein, bevor Sie öffnen. Bis dahin könnten Sie vielleicht versuchen, sich an alles zu erinnern, was Ihnen zu diesem Mädchen einfällt und mit wem sie gestern Abend gesprochen hat.« Daphne neigte den Kopf zur Seite.
»Es geht gar nicht darum, dass eine Minderjährige in unserem Lokal war, oder? Dieses Mädchen steckt in anderen Schwierigkeiten.«
»So könnte man es nennen.«
»Terry und ich, wir wollen keine Scherereien, Mr. Markby.«
»Ich wüsste keinen Grund, warum Sie Scherereien bekommen sollten. Ich schaue dann morgen früh vorbei. Ich danke Ihnen.« Meredith hatte beobachtet, wie Markby zur Theke gegangen war und mit dem Wirt gesprochen hatte. Sie sah, wie er das Foto zeigte. Von ihrem Platz aus wirkte die Reaktion auf dem Gesicht des Wirts fast komisch. Sein Unterkiefer sank herab, und seine derben Züge verrieten Bestürzung. Resigniert hob Meredith ihr Glas. Also würden sie und Alan keinen ruhigen Drink genießen. Offensichtlich hatte der Wirt das Mädchen erkannt. Markby kehrte zu ihr zurück.
»Sie war letzte Nacht hier! Was für ein Zufall!« Er setzte sich zu Meredith, und auf seinem Gesicht stand Ungläubigkeit geschrieben.
»Sie sind ziemlich sicher. Reeves, der Wirt, ist gar nicht glücklich darüber, stell dir vor. Versichert immer wieder, er hätte geglaubt, sie wäre achtzehn. Aber hier geht es gar nicht darum, ob er Minderjährigen Alkohol ausgeschenkt hat.«
»Was wirst du nun tun?«
»Ich warte noch eine Weile ab und spreche mit den Stammgästen. Vielleicht kennt jemand das Mädchen. Außerdem gibt es einen alten Burschen namens Barney Crouch, der so gut wie jeden Abend herkommt, wie es scheint. Reeves glaubt, dass Crouch das Mädchen vielleicht auch bemerkt hat, obwohl er, soweit ich verstanden habe, sein Gehirn in Alkohol zu ertrinken versucht und sich möglicherweise an nichts erinnert. Morgen früh komme ich hierher zurück und finde heraus, ob Reeves und seine Frau in der Zwischenzeit übereingekommen sind, mir noch mehr zu verraten.« Er sah Meredith an.
»Tut mir Leid.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich wollte sowieso am Wochenende meine Küche streichen. Und ich will in diesen neuen Antiquitätenladen. Vielleicht finde ich dort einen walisischen Küchenschrank. Die alten sind schwieriger zu kriegen, als ich dachte.«
»Dann kauf doch einen neuen!«
»Alan! Ich will keinen neuen, ich will einen alten! Ich weiß genau, wie er aussehen muss! Das Holz glatt vom langen Gebrauch, und eine hübsche honigfarbene Patina.« Markby schüttelte zweifelnd den Kopf und nahm einen Schluck von seinem Bier. An jenem Abend erschien Barney Crouch nicht im Silver Bells. Niemand von den übrigen Gästen erkannte das Mädchen auf dem Bild. Markby brachte Meredith nach Hause. Vor ihrer Tür warf er einen gehetzten Blick zur Vorderseite von Mrs. Prides Haus.
»Dein Sergeant schläft im Hinterzimmer«, sagte Meredith.
»Ich weiß, dass Mrs. Pride nach vorne schläft; sie reißt jeden Morgen sämtliche Fenster auf. Niemand spioniert uns hinterher.«
»Ich muss morgen arbeiten«, sagte Markby düster.
»Wir müssen dieses Mädchen identifizieren.«
»Also hat es wohl keinen Sinn, dich noch auf einen Kaffee nach drinnen zu bitten.« Meredith öffnete die Wagentür und schwang die Beine hinaus.
»Ich denke, es war für uns beide ein langer Tag. Wir sehen uns – nun ja, ruf mich an, wenn du am Sonntag Zeit hast vorbeizukommen.«
»Gut, mach ich.« Sie küssten sich vorsichtig.
»Wir werden nicht beobachtet!«, zischte Meredith.
»Ich habe aber das Gefühl!«
»Alan, wenn das so weiter geht, entwickelst du noch eine Neurose!«
»Du hättest es ihm sagen sollen, Terry!«, sagte Daphne Reeves zu ihrem Mann, als sie am Abend das Lokal abschlossen.
»Er ist Polizist! Ich bin sicher, dass dieses Mädchen mit dem Burschen in der Tweedjacke mitgegangen ist.«
»Das wissen wir nicht genau, Daphne, okay? Wir haben nur gesehen, wie sie sich unterhielten.« Reeves legte seiner Frau die Hände auf die Schultern.
»Sieh mal, Süße, jeden Abend reißen irgendwelche Typen irgendwelche Frauen auf. Das ist schließlich kein Verbrechen! Es ist nicht nötig, dem Polizisten mit diesen Sachen das Ohr blutig zu quatschen. Genauso wenig wie mit irgendwelchen anderen Dingen, was das angeht. Wenn der gute Mann kommt und Fragen stellt, dann antwortest du nur mit ja oder nein. Du gibst nichts freiwillig zum Besten, klar?«
»Warum denn nicht?«
»Weil alles, was du sagst, dich tiefer in die Sache verwickelt, Liebling. Wir haben jeden verdammten Penny in dieses Lokal gesteckt. Ich will nicht, dass es hier von Polizisten wimmelt.«
»Ist das der Grund, warum du ihn zu dem armen alten Barney Crouch geschickt hast?«
»Sicher. Damit er uns nicht mehr im Nacken sitzt! Barney wird sagen, dass er sich an nichts erinnern kann, und der Polizist wird aufgeben, verstehst du? Wenn seine Nachforschungen hier nichts ergeben, schnüffelt er woanders weiter.« Seine Zuversicht machte keinen Eindruck auf Daphne. Sie blieb vor ihm stehen und wickelte eine Strähne blonden Haars um den Finger.
»Aber warum hat dieser Markby nach dem Mädchen gefragt? Da ist nämlich noch etwas, das mir Sorgen macht, Terry, bitte lach mich nicht aus!«
»Und was?«, fragte der gequälte Reeves resignierend.
»Dieses Foto hat so merkwürdig ausgesehen. Warum hatte das Mädchen ein Tuch oder was auch immer über der Schläfe?«
»Ja, ich weiß, was du meinst. Ich hab auch darüber nachgedacht«, gestand er.
»Es war richtig komisch. Ich hatte ein eigenartiges Gefühl. Ihr Gesicht sah merkwürdig aus, ganz besonders die Augen. So ausdruckslos. Wie tot.« Sie hielt den Atem an.
»Terry? Du glaubst doch wohl nicht … ich meine, dieser Markby hat doch nicht gesagt …?«
»Nein, hat er nicht, Liebes, weil auch er nichts freiwillig herausrückt. So wird das Spiel nun einmal gespielt, Daph, siehst du?« KAPITEL 6 Er war ein gut aussehender junger Mann. Römische Nase, olivfarbene Haut, langes, gewelltes Haar, das im Nacken zusammengebunden war. Er trug einen goldenen Ohrring und einen Anzug, der nicht ganz Armani war. Meredith dachte unwillkürlich an Ninive und Tyre.
»Ein walisischer Schrank?«, wiederholte er mit übertriebener Lippenbewegung. Merediths Vision von Ur von den Chaldäern verblasste. Er sprach mit einem enttäuschenden Bermonder Dialekt.
»Meinen Sie ’nen Küchenschrank oder einen echten walisischen?« Meredith nahm die Herausforderung an.
»Ich meine ein Küchenmöbel mit Regalen oben und Schubladen unten, entweder auf Beinen oder mit einem Unterschrank.« Seine Augenbrauen zuckten.
»Diese Schränke sind äußerst begehrt! Ich könnte so viele davon verkaufen, wie ich in die Finger kriege. Ein beliebtes Objekt wie dieses … schwer zu finden. Die Preise spiegeln das natürlich wider.« Meredith stand in der Sorte von Laden, der seinen Status durch wenige ausgewählte Objekte in der Auslage andeutete, in diesem Fall einen viktorianischen Schreibtisch und zwei Ölgemälde von toten Vögeln. Es sah nicht gerade erfolgversprechend aus.
»Und?«, fragte Meredith steif.
»Haben Sie einen da oder nicht?« Seine Stimme nahm einen verschwörerischen Unterton an.
»Kommen Sie mit.« Er führte sie in einen weiteren, größeren und besser ausstaffierten Raum und deutete auf ein Möbelstück in einer Ecke. Es war ein Küchenschrank, aber es war das hässlichste Möbel, das Meredith je gesehen hatte. Ihr Mut sank, und ihre Bestürzung musste offensichtlich sein.
»Das«, sagte er überheblich,
»ist ein echtes Stück. Es stammt aus dem Jahr 1880. Mein Partner hat es auf einer walisischen Hügelfarm gefunden.«
»Wie viel?«, fragte Meredith mehr aus Neugier als aus wirklichem Interesse.
»Wie viel?«, wiederholte sie ungläubig, als er den Preis genannt hatte.
»Es ist ein sehr seltenes Stück«, sagte er rechtfertigend. Seltenheit war nicht unbedingt schlecht, doch wenn er sich einbildete, dass sie ihm diese Geschichte mit der Hügelfarm abnahm …
»Es ist nicht das, wonach ich suche. Und es ist klapprig.« Sie demonstrierte es, indem sie an dem Möbel wackelte. Er stürzte herbei, um den Schrank vor ihrer respektlosen Berührung zu schützen.
»Das liegt daran, dass er auf einem Steinboden gestanden hat! Sehen Sie …« Sein Tonfall wurde bissig.
»Wenn Sie etwas suchen, das neu aussieht, dann können Sie jederzeit einen neuen Schrank aus skandinavischer Fichte kaufen!«
»Ich will keinen neuen Schrank. Ich möchte einen alten, nur nicht diesen hier. Vielen Dank.« Sie war größer als er und mindestens genauso entschlossen.
»Nun, dann viel Glück«, sagte er giftig.
»Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.« Nun, wenn sie schon keinen Schrank fand, dann konnte sie wenigstens ihre Küche anstreichen.
»Genau!«, sagte Meredith ein wenig später, um sich aufzumuntern. Zur Arbeit bereit, in einem alten Hemd von Alan, schwang sie einen zum Universal-Do-It-Yourself-Werkzeug umfunktionierten Suppenlöffel und benutzte ihn, um den Deckel einer Farbdose Sonnenstrahlgelb aufzuhebeln. Sie spähte zweifelnd in die Dose und sah dann zu den Flächen, die sie mühsam abgewaschen hatte. Ein wenig Farbe aufstreichen, das war es, dann konnte sie sehen, wie es wirkte. Sie zog die Leiter in die richtige Position und wollte gerade, mit Pinsel und Farbdose in den Händen, die Stufen hinaufsteigen, als es laut an ihrer Haustür klingelte… Alan konnte es nicht sein – er war mit seinem neuen Fall beschäftigt –, also ignorierte sie das Klingeln zunächst. Doch es schellte erneut. Murrend stieg sie die Leiter wieder hinunter.
»Hallo, Meredith«, sagte die Besucherin verlegen.
»Ich wollte Sie nicht stören, aber wenn Sie vielleicht fünf Minuten hätten …?«
»Katie?«, rief Meredith überrascht. Sie zögerte und dachte an das wartende Sonnenstrahlgelb in ihrer Küche. Katie stand auf der Schwelle und blickte sie flehentlich an. Ihr junges Gesicht über einem zu großen Fischerpullover wirkte verängstigt.
»Sicher, komm rein!« Meredith ließ sich von Katies Augen und dem entzückenden Anblick des schlabberigen Pullovers erweichen. Katie drängte sich in den kleinen Flur.
»Haben Sie sehr viel zu tun?« Der Geruch nach Farbe war kaum zu ignorieren, und sie sah schließlich auch Merediths Arbeitskleidung.
»Ich wollte gerade streichen, ja. Keine Sorge, ich hab noch nicht wirklich angefangen.«
»Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie mögen!« Katies Miene hellte sich auf.
»Ich hab nur alte Sachen an, ehrlich. Es macht überhaupt nichts, wenn sie schmutzig werden. Ich brauche nur eine Schürze oder so etwas.«
»Also schön, ich lehne dein Angebot bestimmt nicht ab. Ich werde dir etwas suchen, was du über deinen Pullover ziehen kannst.« Kurze Zeit später stand Meredith erneut auf der Leiter und strich die höheren Teile der Wand, während Katie in einem alten rosafarbenen Overall, den Mrs. Pride gespendet hatte, den unteren Bereich der Wand strich.
»Ich mache das gerne!«, sagte sie begeistert und verteilte großzügig Farbe auf der Mauer.
»Wie war eigentlich das Rockkonzert?«, erkundigte sich Meredith.
»Prima. Josh hat viel Spaß gehabt. Er hat selbst eine Gitarre und würde gerne in einer Band spielen. Er ist ziemlich gut. Aber es gibt zu viele Gitarristen.« Sie arbeiteten eine Weile weiter, bevor Meredith von der Leiter stieg.
»Ich bekomme einen steifen Hals. Kaffee? Aber ich habe nur Pulverkaffee.« Katie richtete sich auf. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und verzierte ihren Haaransatz mit Sonnenstrahlgelb.
»Ich könnte ihn machen, wenn Sie mögen.« Meredith legte die Pinsel in Lösungsmittel und setzte den Deckel auf die Dose, während Katie Kaffeewasser kochte.
»Ah, das tut gut«, sagte sie dankbar, als Katie ihr den dampfenden Becher reichte. Katie lächelte sehnsüchtig.
»Es muss wundervoll sein, wenn man unabhängig ist. Sie haben ein eigenes Haus und richten sich so ein, wie Sie es wollen.«
»Ich möchte einen walisischen Küchenschrank«, sagte Meredith.
»Aber alte Stücke sind so selten wie Zähne bei Hühnern, wie es scheint! Ja, ich mag mein altes Haus. Nach allem, was ich höre, ist es ein ganzes Stück kleiner als das deiner Familie.« Katies Gesicht verschleierte sich.
»Park House war schon immer im Besitz der Devaux. Ich würde es jederzeit gegen etwas wie dies hier eintauschen! Ein gemütliches kleines Haus, ein anständiges, normales Heim und ganz normale Eltern!« Aha!, dachte Meredith. Ist sie gescholten worden? Was gefällt ihnen nicht? Der Junge, Josh? Oder dass sie nachts ausgeht und Rockkonzerte besucht?
»Sind Sie gut mit Ihren Eltern ausgekommen, Meredith?« Die Frage klang so unschuldig, dass Meredith sie nicht als ungehörig empfand. Außerdem hatte Katie sich nun auch die Nase mit gelber Farbe beschmiert.
»Ich bin ganz gut mit ihnen ausgekommen, ja. Aber sie waren schon alt. Bei manchen Dingen hat es geholfen; sie haben mir sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber sie sind gestorben, als ich gerade Anfang zwanzig war, und das war nicht so gut.«
»Haben Ihre Eltern noch gelebt, als Sie nach Übersee gegangen sind? Hatten sie Einwände?« Meredith zögerte.
»Vielleicht hatten sie Bedenken, aber ich hatte mich so entschieden, und meine Eltern haben es akzeptiert.«
»Das ist es!«, platzte Katie heraus.
»Es war Ihre Wahl! Sie haben Ihre Entscheidung respektiert! Ich habe gar keine Chance, eine eigene Entscheidung zu treffen!« Ach du meine Güte, jugendliche Rebellion!, dachte Meredith ironisch und ein wenig alarmiert. Sie spürte kein Verlangen, in Familienangelegenheiten der Conways verwickelt zu werden.
»Gib ihnen Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass du erwachsen wirst, Katie. Es ist auch für deine Eltern schwierig.«
»Aber sie sind nicht wie andere Eltern! Wie auch, wenn sie in einer Villa wie Park House leben! Alles fällt in sich zusammen! Mit Ausnahme der Räume, die Vater für sein Geschäft abgegrenzt hat! Mama ist ständig krank, und Dad …« Sie zögerte.
»Daddy hat jemand anderes gefunden.« Das war dünnes Eis, und es wurde von Minute zu Minute dünner.
»Hör mal, Katie, das geht mich alles nichts an«, sagte Meredith entschieden.
»Ich bin gerne bereit, mit dir über allgemeine Probleme zur reden, aber nicht über das Privatleben deiner Eltern!«
»Wenn Sie die grässliche Maria kennen würden, könnten Sie mich verstehen! Die Stimmung zu Hause ist in diesen Tagen einfach schrecklich! Ich kann es überhaupt nicht beschreiben!« Katie setzte ihren Kaffeebecher ab.
»Ich glaube, meine Mutter versucht auf ihre Weise, damit zurecht zu kommen. Ihre Lösung besteht darin, mich für ein Jahr nach Paris zu schicken, zu einer alten französischen Freundin von ihr!«
»Klingt doch gar nicht schlecht!«
»Nicht zu Mireille! Außerdem bin ich kein Möbelstück, das man einfach aus dem Weg schieben kann! Maria ist diejenige, die gehen müsste! Sie ist der Grund für all die Schwierigkeiten! Manchmal wünschte ich, sie würde einfach tot umfallen!«
»Das klingt nach einer schwierigen Situation«, unterbrach Meredith sie.
»Aber du sagst, dass deine Mutter auf ihre eigene Weise versucht, damit fertig zu werden. Warum hilfst du ihr nicht? Geh nach Paris. Vielleicht gefällt es dir.«
»Ich werde nicht gehen!«, widersprach Katie störrisch.
»Natürlich würde ich gerne durch die Welt reisen wie Sie. Aber auf meine Weise!« Unter dem besorgten Äußeren dieser jungen Dame verbirgt sich offensichtlich ein eiserner Wille, stellte Meredith fest. Matthew Conway war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Vielleicht hatte seine Tochter die Härte von ihm geerbt. Auf jeden Fall brauten sich im Haushalt der Conways Probleme zusammen. Doch das alles hatte nichts mit Meredith zu tun, und sie war nicht sicher, ob sie die Briefkastentante spielen wollte. Sie wollte ihre Küche streichen. Meredith blickte nach oben zu den trocknenden Farbrändern.
»Versuch, laute Schreiereien zu vermeiden«, riet sie Katie.
»Bleib bei deinen Argumenten, aber sei leise und logisch. Mehr kann ich dir wirklich nicht dazu sagen.«
»Aber das funktioniert nicht!«, entgegnete Katie leidenschaftlich.
»Was soll ich nur machen? Ich kann nur versuchen, sie zu schockieren, damit sie mir zuhören! Ich habe eine Menge Dinge getan, die sie schockieren würden, wenn sie es wüssten.« In Meredith regte sich Unruhe.
»Was für Dinge?«
»Oh, Dinge eben.« Katie war plötzlich wieder schüchtern.
»Aber meine Eltern wissen nichts davon.«
»Warum hast du sie dann getan?«
»Ich konnte nicht anders! Ich wollte … ich wollte ausbrechen und Empörung erregen, deswegen … deswegen hab ich es gemacht. Aber ich kann meinen Eltern nicht wehtun, und wenn ich es noch so sehr will! Ich liebe beide. Alles ist so schrecklich kompliziert.«
»Katie«, sagte Meredith langsam,
»du hast keine wirklichen Dummheiten gemacht, oder? Drogen genommen?« Katie blickte sie störrisch an und schwieg.
»Falls ja, dann hör auf damit. Du magst vielleicht glauben, dass du Probleme hast, aber glaub mir, sie sind nichts im Vergleich zu den Problemen, mit denen du konfrontiert sein wirst, wenn du dich von diesem Teufelszeug abhängig machst.«
»Ich weiß.«
»Dann ist es ja gut.« Meredith trug die Becher zum Spülbecken und wusch sie ab. Während sie das Geschirr zum Abtropfen hinstellte, sagte sie:
»Es tut mir Leid, Katie. Es klingt, als wäre das Leben zu Hause für dich schwierig, aber was sonst kann ich sagen oder tun?« Zögernd erwiderte Katie:
»Ich dachte, Sie könnten vielleicht hingehen und mit meinen Eltern reden?«
»Ich?« Meredith wirbelte herum.
»Deine Eltern kennen mich nicht einmal!«
»Ich habe von Ihnen erzählt! Auf Sie würden Mum und Dad hören, ganz bestimmt!«
»Nein, Katie, das kann ich nicht tun!«, entgegnete Meredith bestimmt. Das Mädchen zog ein Stück Papier hervor.
»Sehen Sie, ich habe unsere Telefonnummer aufgeschrieben und die Vornamen meiner Eltern. Adeline und Matthew. Mein Vater nennt meine Mutter Addy. Adeline ist ein grässlicher Name, aber er kommt in der Familie häufig vor. Ich hatte Glück, dass sie mich nicht auch so getauft haben. Daddy hat sich dagegen gesträubt. Katherine ist ebenfalls ein häufiger Name in der Familie, und so bekam ich ihn, Gott sei Dank. Aber ich glaube, Mum wünscht sich heimlich immer noch, sie hätte mich damals Adeline getauft.«
»Katie, ich kann das nicht tun!« Doch Merediths Besucherin steckte das Stück Papier bereits unter das Marmeladenglas.
»Ich lass es Ihnen hier. Ich muss jetzt gehen. Danke, dass Sie mich beim Streichen haben helfen lassen. Sechs Uhr ist eine gute Zeit, um bei meinen Eltern anzurufen. Nachmittags legt sich Mutter immer hin.«
»Nein, Katie!« Das Kind war offensichtlich sehr hartnäckig. Und dabei hatte Katie so harmlos ausgesehen! Katie schlüpfte aus dem rosafarbenen Overall und hängte ihn ordentlich hinter die Tür.
»Auf Wiedersehen, Meredith.« Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss. Wieder allein, zog Meredith den Zettel unter dem Glas hervor und steckte ihn in Ermangelung etwas Besseren in eine Tasche des rosa Overalls. Sie würde nicht bei den Conways anrufen. Katie musste lernen, dass sie Menschen nicht so einfach herumkommandieren konnte. Doch Merediths innerer Friede war gestört, und es war ihr unmöglich, sich erneut auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder musste sie an das denken, was Katie gesagt hatte. Wer war diese Maria, und lebte sie ebenfalls in Park House? Unterhielt Matthew Conway etwa eine ménage à trois, direkt unter den Augen seiner Tochter? Um zwölf Uhr hatte sie Kopfschmerzen. Sie drückte den Deckel auf den Farbeimer, zog die Malersachen aus, schlüpfte in einen Pullover, bürstete sich die Haare und ging zur Haustür. Als sie nach draußen trat, öffnete sich nebenan ebenfalls die Tür, und jemand kam auf die winzige Veranda. Eine junge Frau mit kurzen Haaren und angespanntem Gesichtsausdruck. Sie blieb stehen und starrte Meredith an, die ihren Blick erwiderte.
»Helen Turner?«, fragte Meredith schließlich und durchbrach ein Schweigen, das peinlich zu werden gedroht hatte.
»Ja. Und Sie sind Meredith Mitchell. Mrs. Pride …« Helen brach ab und errötete ein wenig.
»Mrs. Pride hat Ihnen von Alan und mir erzählt.« Helen verzog das Gesicht.
»Tut mir Leid. Sie ist eine nette alte Dame, aber ein wenig geschwätzig.« Das verlegene Schweigen kehrte zurück, während die beiden Frauen sich misstrauisch beäugten. Wie albern, dachte Meredith. Helen ist fremd in Bamford und eine Nachbarin. Ich kann zumindest versuchen, freundlich zu sein!
»Gehen Sie jetzt rüber zur Wache?«, fragte sie.
»Ich gehe zur Wache, ja, aber unterwegs wollte ich noch in der Stadt halten und sehen, ob es vielleicht ein paar kleine Cafés gibt. Mrs. Pride versorgt mich mit Frühstück und Abendessen, aber um das Mittagessen muss ich mich selbst kümmern. Die Bamforder Polizeikantine ist ein wenig dürftig.«
»Ich wollte auch in der Stadt zu Mittag essen«, sagte Meredith.
»Ich bin nämlich dabei, meine Küche zu streichen, und der Gestank macht mir zu schaffen. Vielleicht könnten wir irgendwo zusammen eine Kleinigkeit essen? Mögen Sie Fisch und Chips?«
Alan Markby war bereits früh am Morgen auf den Beinen gewesen und hatte dem Silver Bells seinen angekündigten Besuch abgestattet. Um acht Uhr fünfzehn, als er aus dem Wagen stieg, sah er, wie die Tür des Lokals geöffnet wurde. Als er sich näherte, schlug ihm der Geruch von schalem Bier und kaltem Rauch entgegen, was wohl den Grund für das Lüften erklärte.
Er betrat das Lokal. Die Stühle waren auf die Tische gestapelt, und mitten im Laden stand einsam und verlassen ein Staubsauger. Niemand war zu sehen.
»Hallo?«, rief Markby.
»Jemand zu Hause?«
Aus dem hinteren Teil des Ladens kam ein polterndes Geräusch, und eine weibliche Stimme schimpfte los. Daphne Reeves tauchte in einer Tür hinter dem Tresen auf und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Als sie Markby sah, schien sie zu erschrecken.
»Oh, Mr. Markby! Sie sind sehr früh. Terry ist mit dem Kombi unterwegs, um Sachen zu besorgen. Er ist in ungefähr zwanzig Minuten wieder zurück.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Markby freundlich.
»Ich werde warten, wenn Sie nichts dagegen haben.« Er setzte sich auf einen Barhocker, stützte die Ellbogen auf die feuchte Theke und lächelte sie an.
Glück spielte bei der Aufklärung von Verbrechen oft eine entscheidende Rolle. Wie beispielsweise Daphne allein anzutreffen. Von den beiden Reeves’ war sie ohne Frage die weniger starrköpfige – oder zumindest diejenige, die sich Gewissensfragen gegenüber leichter erweichen ließ.
Sie musterte ihn nervös.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken, Mr. Markby?« Sein Blick schweifte hinter dem Tresen zu der Stelle, wo die große Kaffeemaschine leise vor sich hin blubberte. Der Einbau dieses Monsters musste einige alte Stammgäste schockiert haben. Er stellte sich vor, wie sie dagegen gewettert hatten.
»Kaffee in einem Pub? So ein moderner Unsinn!«
»Ich hätte gerne eine Tasse davon«, sagte Markby.
»Danke sehr.« Sie war überrascht, doch sie bewegte sich bereitwillig zur Maschine, froh, dass sie etwas tun konnte.
»Ich hatte die Maschine sowieso gerade eingeschaltet, damit Terry Kaffee trinken kann, wenn er erst wieder zurück ist.« Sie brachte Markby eine Tasse; das Geschirr war klein und aus Plastik.
»Trinken Sie keinen?«, fragte Markby, während er die Sahne umrührte.
»Sieht aus wie harte Arbeit, so ein Pub«, fügte er hinzu.
»Das können Sie laut sagen!«, antwortete Daphne mit Nachdruck. Sie nahm sich eine Tasse und kam zu ihm.
»Terry ist bestimmt bald zurück.« Sie wünschte sich immer noch ihren Mann herbei, doch sie war nicht mehr so nervös wie zu Beginn.
»Das Geschäft schien ziemlich gut zu gehen gestern Abend. Ich nehme an, Sie haben eine Weile benötigt, um so viel Kundschaft anzuziehen?« Vorsichtig nippte er an seinem Kaffee. Gar nicht so übel.
»Es wird langsam besser. Die Wochenenden sind meistens voll. Die Montage und die Donnerstage sind schwach. Deswegen mussten wir unbedingt dafür sorgen, dass wir Essen anbieten können. Wenn man eine anständige Kleinigkeit zu vernünftigen Preisen anbieten kann, spricht sich das bald herum. Man bekommt vernünftige Kundschaft. Sie wissen schon, gut angezogen und so.«
»Trotzdem kommen viele junge Leute – jedenfalls haben Sie das gestern Abend gesagt.« Ihre Gesichtsmuskeln arbeiteten erneut.
»Wir fragen sie nach ihrem Alter, wenn uns Zweifel kommen, Mr. Markby. Aber es ist heutzutage wirklich schwer zu sagen, und wenn wir viel Betrieb haben …«
»Ja, sicher, ich verstehe.« Er nahm eine Speisekarte zur Hand. Die Auswahl war beschränkt und vorhersehbar, aber angemessen.
»Sie kochen allein, Mrs. Reeves?«
»Ja. Terry ist nicht besonders gut mit Töpfen und Schüsseln.« Ein kurzes Lächeln erhellte ihr rundes, hübsches Gesicht.
»Er ist ein praktisch veranlagter Mann. Er hat gearbeitet wie ein Tier, um die Küche auf Vordermann zu bringen!« Terry Reeves hatte die Küche am Vorabend bereits erwähnt. Sie war offensichtlich ein Thema, das bei den beiden an oberster Stelle stand.
»Meine … eine Freundin von mir ist gerade dabei«, sagte Markby harmlos,
»… ihre alte Küche herauszureißen und das ganze Haus zu renovieren.« Während er redete, spürte er einen Anflug von Verärgerung, vermischt mit Bedauern, was überhaupt nichts mit der vor ihm liegenden Aufgabe zu tun hatte. Fast hätte er gesagt:
»Meine Freundin«, doch dann hatte er sich gescheut, den Begriff zu benutzen. Er war Anfang vierzig und Meredith in den Dreißigern.
»Freundin« oder
»Freund« erschienen als jugendliche, unpassende Bezeichnung. Er war kein Junge mehr, und Meredith kein Mädchen. Was war falsch an
»Mann« oder
»Frau«? Zählte denn Erfahrung und Reife heutzutage überhaupt nichts mehr? Musste denn jeder einer unreifen Jugend hinterhereifern? Was er gerne gesagt hätte, war:
»meine Frau«. Doch die Aussichten standen nicht besonders gut. Markby seufzte. Daphne seufzte mit ihm.
»Ich weiß, wie das ist.«
»Tatsächlich?«, fragte er überrascht.
»Ja. Es ist ein Albtraum, so eine alte von oben bis unten verdreckte Küche herauszureißen. Sie würden nicht glauben, was man hinter den alten Schränken und Arbeitstischen so findet! Wenn Sie unsere Küche heute sehen … hier, kommen Sie, und werfen Sie einen Blick hinein!« Sie öffnete ihm eine Klappe im Tresen. Wenig später blickte Markby auf eine glänzende Ansammlung aus Resopal, Edelstahl, Chrom und weißen Kacheln. Es sah aus wie Fullers Autopsieraum.
»Es ist sehr, äh, schick. Im Grunde genommen möchte sie – meine Freundin, meine ich – keine moderne Küche. Sicher, sie hat einen modernen Herd und einen neuen Kühlschrank und so weiter, aber es ist ein altes Haus, und sie möchte gerne, dass es möglichst original aussieht.«
»Also abgebeizte Kiefer?«, erkundigte sich Daphne kenntnisreich.
»Das ist hübsch, aber für eine professionelle Küche wie diese hier ohne Nutzen. Wir müssen gekachelte Wände haben. Die Hygienevorschriften, wissen Sie?«
»Ich kenne mich nicht aus mit diesen abgebeizten Möbeln. Sie sucht nach einem walisischen Schrank, einem echten alten Stück in gutem Zustand. Aber sie findet keinen.«
»Tatsächlich nicht?« Daphne legte die Stirn in Falten und starrte Markby an, wobei sie auf der Unterlippe kaute.
»Aber ich bin nicht wegen Ihrer Küche hergekommen!«, sagte Markby und lenkte die Unterhaltung auf das Thema zurück.
»Barney Crouch war gestern Abend nicht hier. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
»Barney? Folgen Sie einfach der Straße nach Cherton, der kleinen Nebenstraße. Sie fahren zur Linken an Park House vorbei und den Berg hinunter, und dann liegt es gleich auf der rechten Seite. Sie können es überhaupt nicht verfehlen. Es ist ein richtiger Schandfleck. Ein rotes Ziegelsteingebäude, völlig fehl am Platz zwischen all den Feldern.« Sie runzelte die Stirn.
»Ich weiß nicht, warum er gestern Abend nicht hier war. Ich hoffe doch, er ist nicht krank?«
»Ich werde es herausfinden«, sagte Markby.
»Oh, danke!« Sie strahlte ihn an. Sie war ein nettes Mädchen, diese Daphne. Nein, nicht Mädchen – Frau! Auch er war in die Wortfalle getappt. Daphne war eine junge Frau in der Blüte ihrer Jahre. Der Leichnam auf Fullers Tisch, das war ein Mädchen, jung, unschuldig, ohne Chance zum Erblühen.
»Ich brauche jede noch so kleine Information über dieses Mädchen«, sagte er leise.
»Es ist von größter Bedeutung, sonst würde ich Sie bestimmt nicht belästigen.«
»Sie ist tot, nicht wahr?«, flüsterte Daphne. Sie warf einen Blick in die Runde, doch selbst die funkelnde neue Küche war kein Trost.
»Ich hab es heute Morgen im Radio gehört, in den Lokalnachrichten. Sie sagen, dass ein Leichnam gefunden, aber noch nicht identifiziert worden sei. Wir kennen ihren Namen nicht, Mr. Markby, das ist die Wahrheit!«
»Trotzdem verschweigen Sie etwas, Daphne, nicht wahr?« Sie wand sich unglücklich.
»Terry hat gesagt … Terry möchte keine Schwierigkeiten mit der Polizei, und ich auch nicht!«
»Wenn Sie die Arbeit der Polizei behindern, stecken Sie in Schwierigkeiten!« Er wusste, dass er grausam war, doch damit fiel ihre letzte Verteidigung in sich zusammen.
»Das würden wir nicht! Gestern Abend, als Sie hier waren, da haben Sie nicht gesagt, dass es …« Sie würgte an dem Wort
»Mord«.
»… dass es so ernst war. Ich weiß, dass ich Ihnen alles erzählen muss, schon allein deswegen, weil ich sonst nicht mehr ruhig schlafen könnte. Außerdem wollen wir ja helfen! Aber es ist nicht viel.« Sie erzählte ihm die Geschichte.
»Ich verstehe«, sagte Markby, als sie geendet hatte.
»Aber Sie wissen nicht, wer dieser Mann in der grünen Tweedjacke ist?« Sie schüttelte den Kopf.
»Und Sie sind sicher, dass er seit Donnerstag nicht mehr hier war?« Ihre blonden Locken flogen, als sie heftig nickte. Es war eine Spur, eine vage Möglichkeit, doch er musste ihr nachgehen. Draußen heulte ein Motor auf, stotterte und erstarb. Eine Wagentür wurde zugeschlagen. Reeves stampfte schnaufend herein. Beim Anblick Markbys blieb er wie angewurzelt stehen und warf seiner Frau einen besorgten Blick zu.
»Ich hab ihm alles erzählt«, sagte Daphne herausfordernd.
»Ich hab ihm von diesem Burschen mit der grünen Jacke erzählt. Ich musste es tun. Es ist … es ist …«
»Ich leite eine Morduntersuchung, Mr. Reeves«, kam Markby ihr zu Hilfe. Reeves zog die Schultern hoch, bis sein Hals zu verschwinden schien und das mächtige Kinn auf der Brust ruhte.
»Hab ich mir schon gedacht, nach dem, was sie heute Morgen im Radio erzählt haben.« Markby fragte nicht, ob Reeves im Licht der neuen Informationen vorgehabt hatte, mit seiner Geschichte herauszurücken. Er hatte schon oft mit Typen wie dem Wirt des Silver Bells zu tun gehabt, und sie gaben nichts freiwillig preis. Genauso wenig, wie sie mit ihren Problemen zur Polizei gingen. Sie regelten alles selbst, im Allgemeinen mithilfe von ein paar ihrer
»Jungs«.
»Sie haben keine Idee, wer dieser Mann war?«, fragte Markby – vergeblich, wie er wusste.
»Tut mir Leid, der Herr«, entgegnete Reeves entschlossen. Er bemerkte das warnende Glitzern in Markbys Augen, und seine Stimme nahm einen schrilleren, protestierenden Tonfall an.
»Ich schwöre es! Gehen Sie, und fragen Sie den alten Barney! Er hat ihn ebenfalls gesehen!«
»Aber er erinnert sich sehr wahrscheinlich nicht«, unterbrach ihn Daphne.
»Er war schon viel zu betrunken!«
»Er kann gar nicht zu viel getrunken haben!«, brüllte Terry sie an. Markby entschied, dass es an der Zeit war aufzubrechen und dem drohenden ehelichen Streit aus dem Weg zu gehen.
»Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Hilfe und für den Kaffee, Mrs. Reeves. Ich hoffe, ich muss Sie nicht wieder belästigen. Falls einem von Ihnen noch etwas einfallen sollte oder Sie den Mann wiedersehen, den Sie beschrieben haben, rufen Sie bitte unverzüglich auf der Bamforder Wache an!« Sie versprachen es, Daphne inbrünstig, Terry eher unaufrichtig.
»Ich werde noch heute Morgen zu Mr. Crouch fahren«, sagte Markby,
»da Sie so darauf drängen, dass ich mich mit ihm unterhalte, Mr. Reeves.«
»Du weißt genau, dass es reine Zeitverschwendung ist, wenn er zu dem alten Barney fährt!«, sagte Daphne und trug das benutzte Geschirr in die Küche.
»Ich hab es dir schon einmal gesagt, ich will nicht, dass die
Gesetzeshüter hier herumhängen! Indem ich diesen Polizisten zu dem alten Mann schicke, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: erstens hat es den Anschein, als versuchte ich zu helfen, und zweitens schaffe ich mir den Burschen von der Pelle, kapierst du das? Dem Bullen gefällt das: es macht mich zu einem guten Bürger, und es kostet mich nichts.«
»Wenn du versuchst, Mr. Markby an der Nase herumzuführen, wird er es merken, Terry.«
»Unsinn«, entgegnete ihr Ehemann hochmütig.
»Er ist doch nur ein kleiner Dorfpolizist.« KAPITEL 7
»Das gefällt mir«, sagte Helen anerkennend.
»Danke, dass Sie mich mitgenommen haben. Wie, sagen Sie, heißt dieses Lokal? The Dover Sole?« Beide lachten, und Meredith warnte sie grinsend über das türkis karierte Tischtuch hinweg:
»Sie werden mir sicherlich nicht mehr danken, wenn sie nach Bratöl riechend zur Arbeit erscheinen. Sie werden sicherlich spöttische Bemerkungen ernten.«
»Zu dumm«, kam die unerschütterliche Antwort. Helen sah auf ihre Uhr.
»Ich muss mich mit dem Essen beeilen. Ich muss um eins auf der Wache sein, und ich kann es mir nicht leisten, zu spät zu kommen, nicht gleich zu Beginn meiner Dienstzeit in Bamford.« Sie zerschnitt den golden gebackenen Teigmantel und spießte ein Stück Dorsch auf ihre Gabel.
»Zwei Schellfisch, eine Zervelat!«, rief eine Stimme, und die Friteuse zischte und entließ einen Schwall Hitze und Dampf. Meredith schüttete großzügig Gewürzessig über ihren Fisch.
»Wie kommt es eigentlich, dass dieser Essig in den Schnellrestaurants anders schmeckt als alles, was man zu kaufen bekommt?«
»Ich hab mal einen Wirt gefragt. Er hat gesagt, es komme daher, dass es kein normaler Essig sei, sondern irgendein zusammengemischtes Zeugs.« Helen legte ihre Gabel ab.
»Hören Sie, Meredith, ich kann verstehen, dass Sie es als peinlich empfinden, wenn ich direkt neben Ihnen wohne. Falls es Sie tröstet, auch ich empfinde es als peinlich. Schließlich ist Alan Markby mein Chef.«
»Kommen Sie, es ist nicht Ihre Schuld. Außerdem spielt es genau genommen keine Rolle. Wir sind alle drei erwachsene Menschen und sollten doch wohl in der Lage sein, gegenseitig unser Privatleben zu respektieren! Außerdem – ich weiß nicht, was Mrs. Pride Ihnen erzählt hat, aber die … die Freundschaft zwischen Alan und mir hat keinem von uns die Selbstständigkeit genommen. Er hat seinen Beruf, ich habe meinen. Wir haben nicht vor, daran etwas zu ändern. Falls Mrs. Pride etwas anderes erzählt hat, dann hat sie sich geirrt.« Helens graue Augen richteten sich über den dicken Rand der Steingut-Tasse nachdenklich auf.
»Ich verstehe …« Aber was sie genau verstanden hatte, das sagte sie Meredith nicht.
»Zwei Dorsch mit Chips!«, rief die Stimme an der Friteuse.
»Hier, mein Süßer!« Der Kunde nahm sein Paket mit gebackenem Fisch und wandte sich von der Ladentheke ab. Das führte dazu, dass er Meredith direkt ins Gesicht sah. Er zögerte und kam dann an ihren Tisch.
»Hallo, Josh!«, sagte Meredith überrascht.
»Fisch zum Mittagessen?«
»Ja. Wir – meine Tante und ich – essen samstagmittags immer Fisch. Ich gehe ihn holen …« Der Junge scharrte mit den Füßen und blickte verlegen zu Helen, die er nicht kannte.
»Ich möchte Sie nicht beim Essen stören, aber war Katie heute Morgen bei Ihnen?«
»Ja, war sie«, sagte Meredith und musterte ihn neugierig. Er errötete.
»Hat sie erzählt, dass sie nach Frankreich muss? Sie will nicht, wissen Sie, und ihre Eltern versuchen, sie dazu zu zwingen! Das heißt, ihre Mutter versucht es.«
»Sie hat darüber gesprochen, Josh, und ich kann dir nur das sagen, was ich auch ihr gesagt habe: Es hat nichts mit mir zu tun. Sie muss es allein mit ihrer Familie klären. Falls Katie und du irgendeinen Plan ausgeheckt habt, der mich mit einbezieht, dann … dann … nun, das kommt überhaupt nicht infrage, verstehst du?«
»Aber Sie kennen Katies Familie nicht!«, sagte der Junge halsstarrig.
»Nein, ich kenne sie nicht, und das ist nur einer der zahlreichen Gründe, aus denen ich mich nicht einmischen kann. Ich nehme an, du möchtest auch nicht, dass sie nach Frankreich geht. Kommt das daher, dass sie es nicht will, oder hast du eigene Gründe?«
»Ich bin nicht selbstsüchtig!«, rief er mit erhobener Stimme, dach als er Helens interessierten Blick bemerkte, presste er die Lippen zusammen. Dann richtete er sich auf und umklammerte die warme Packung mit dem Fisch.
»Ich muss jetzt gehen, oder das hier wird kalt! Tut mir Leid, dass ich Sie belästigt habe! Wie Sie gesagt haben, Sie können nichts daran ändern. Aber irgendjemand muss doch etwas unternehmen!« Er rannte aus dem Geschäft. Helen hob fragend eine Augenbraue.
»Was hatte das alles zu bedeuten?«
»Ich weiß es selbst nicht so genau! Aber ich beginne zu vermuten, dass es in unserer Stadt eine ganze Menge junger Leute mit großen Problemen gibt!« Meredith schüttelte den Kopf.
»Ich kann ihnen nicht helfen! Warum um alles in der Welt kommen sie zu mir?«
»Wichtig ist«, sagte Helen Turner,
»dass sie überhaupt zu einem Erwachsenen gehen, wenn sie ein Problem haben. Bevor es zu spät ist.« Sie sah erneut auf ihre Uhr.
»Meredith, ich muss jetzt wirklich los. Tut mir Leid, dass ich so in Eile bin. War mir wirklich eine Freude, mit Ihnen zu reden!«
»Rufen Sie mich doch einfach an, wenn Sie Zeit haben«, sagte Meredith.
»Aber ich muss Sie warnen – kann sein, dass ich Ihnen einen Pinsel in die Hand drücke.«
Alan Markby folgte der Wegbeschreibung, die er von Daphne Reeves erhalten hatte, und fand Barney Crouchs Haus ohne Probleme.
Es war inzwischen später Vormittag, und er war plötzlich gar nicht mehr sicher, ob er nicht auf eine falsche Fährte geschickt worden war – weniger von der hübschen Wirtin als von ihrem Ehemann. Vielleicht glaubte Reeves, der an die hartnäckigen Cops Londons gewöhnt war, dass er sich auf diese Weise eines dümmlichen Dorfpolizisten entledigen konnte. Falls es so war, dachte Markby grimmig lächelnd, dann stand Reeves eine böse Überraschung bevor.
Daphne auf der anderen Seite schien zuverlässiger, und ihre Beschreibung des Hauses traf den Nagel auf den Kopf. Mit seiner seltsamen Architektur bildete es tatsächlich einen regelrechten Schandfleck in der Landschaft.
Das Schlagen der Wagentür sandte protestierend kreischende Krähen in die nackten Zweige der Bäume hinauf, doch hinter den Vorhängen bewegte sich nichts. Vielleicht war Mr. Crouch auf der Rückseite. Markby wanderte über einen unkrautübersäten Kiesweg zur Rückseite des Hauses. Moos bedeckte die unteren Bereiche des Mauerwerks, und der Mörtel zersetzte sich. Das Haus benötigte dringende Reparaturen. Doch nach dem zu urteilen, was Markby gehört hatte, war Barney Crouch kein Mann, den derartige Dinge bedrückten. Markby hoffte, ihn wenigstens nüchtern anzutreffen und nicht beim Ausschlafen irgendeines monumentalen Rausches.
Irgendjemand war auf den Beinen und hantierte im Haus. Als Markby um die Ecke kam, stieg ihm der Geruch von frischen Bratwürsten in die Nase. Durch die offene Hintertür drang das Geräusch von brutzelndem Fett, und ein milder Bariton sang munter vor sich hin.
Als Markby den Text hörte, musste er grinsen.
»Hallo, ist jemand zu Hause?«, rief er. Das Singen brach ab. Ein älterer Mann erschien in der Tür. Er hielt eine schwere gusseiserne Pfanne. Die Würstchen, dunkelbraun und glänzend, brutzelten noch immer im heißen Fett. Barney war offensichtlich nicht beeindruckt von modernen Vorstellungen über kalorien- und cholesterinarmes Kochen. Er beugte sich vor und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Dienstausweis, den Markby ihm hinhielt, wobei die Pfanne in eine gefährliche Schräglage geriet, sodass die Würstchen jeden Augenblick auf die Füße des Besuchers zu purzeln drohten.
»Ein sehr hübscher Beruf«, sagte er.
»Und wie komme ich zu dieser Ehre?«
»Ich versuche die Bewegungen einer Person zu rekonstruieren, die am letzten Donnerstagabend im Silver Bells gewesen ist, Mr. Crouch. Wenn Sie ein paar Minuten erübrigen könnten? Tut mir Leid, dass ich so früh bin und Sie beim Frühstück störe.« Hunger nagte in seinem Magen, während er redete. Abgesehen von einem Kaffee im Pub der Reeves’ hatte er bisher nur eine Tasse Tee und ein leichtes Biskuit am frühen Morgen zu sich genommen.
»Mein Name ist Barney«, sagte Crouch.
»Kommen Sie rein, Chief Inspector! Vielleicht haben Sie ja Lust, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten? ’n Paar Würstchen, ’ne Tomate oder zwei? Eine gebackene Kartoffel? Eier? Schinken hab ich keinen mehr, tut mir Leid, aber vielleicht findet sich im Kühlschrank noch etwas als Ersatz.«
»Ja, bitte sehr!«, sagte Alan Markby.
Barneys Küche war überraschend gemütlich und sauber. Noch überraschender war die Tatsache, dass ein Piano darin stand, woraus Markby schloss, dass sie sein Hauptaufenthaltsraum war. Barney war ein aufmerksamer Gastgeber. Er bot Markby einen Platz am Tisch an und servierte ihm einen Emaillebecher Tee mit einem Schuss Whisky darin,
»um ein wenig in Gang zu kommen«. Offensichtlich missfiel es ihm, beim Kochen zu reden, und so ließ Markby ihn in Ruhe, solange er mit der kulinarischen Seite der Dinge beschäftigt war. Stattdessen las er in einer einen Monat alten Ausgabe von The Stage, während er vorsichtig an seinem Tee nippte.
»Ich bin gerne auf dem Laufenden«, drang Barneys dumpfe Stimme aus dem alten Kühlschrank.
»Obwohl ich nicht mehr aktiv im Geschäft bin. Mögen Sie Nierchen? Ich mag sie am liebsten scharf, mit reichlich Senf und Worcestershire Sauce.«
Seine Vorstellungen einer Mahlzeit stammten unübersehbar aus ferner Vergangenheit. Als endlich alles zu seiner Zufriedenheit gerichtet war, ächzte der Tisch unter der Last der aufgetragenen Speisen. Die Würstchen, Tomaten, Eier und gebackenen Kartoffeln waren wie versprochen da, genau wie die Nierchen in einer aromatischen Soße, ein Laib Brot, eine Schale Butter, ein Glas ›Frank Coopers Oxford Marmelade‹, ein Pfund streng riechenden Käses, zwei Flaschen Guinness sowie ein englischer Teekuchen.
»Den«, sagte Barney und deutete mit einem kurzen dicken Finger auf den Teekuchen,
»den habe ich von einer dieser Kirchenfrauen. Ständig am Backen! Eine Witwe namens Pride. Sie kommt von Zeit zu Zeit mit dem Fahrrad hier vorbei, um sich zu überzeugen, dass ich noch nicht verwahrlost bin!« Die letzten Worte grollte er.
»Ich befürchte das Schlimmste! Nehmen Sie sich vor den Frauen Gottes in Acht. Markby! Sie hängen einem am Hals wie Mühlsteine!«
Er schaufelte Nierchen auf ihre Teller, goss Soße darüber und öffnete die beiden Flaschen Guinness. Dann setzte er sich zu Markby an den Tisch.
Als Markby sah, wie die dunkelbraune Flüssigkeit in das Glas perlte und sich eine dicke Schaumkrone bildete, begann er sich ängstlich zu fragen, wie sein Magen auf diese reichhaltige Mahlzeit reagieren würde.
»Sehen Sie«, gestand Barney,
»ich koche wirklich gerne, aber ich kann mich nicht dreimal am Tag hinter den Herd stellen! Also esse ich nur einmal richtig gut, immer um diese Tageszeit, und abends vielleicht noch ein Brot und Käse und ein paar eingelegte Zwiebeln oder Gurken, bevor ich aus dem Haus gehe. Möchten Sie vielleicht eine Zwiebel dazu?« Er erhob sich halb aus seinem Stuhl.
»Nein, nein, danke vielmals«, sagte Markby hastig.
»Das ist mehr als reichlich! Mein Schwager ist ein begeisterter Koch und schreibt übers Essen. Er hatte sogar einmal eine kleine Fernsehserie.«
»Nouvelle Cuisine?« , erkundigte sich Crouch. Er stieß die Worte hervor, als handelte es sich um die schlimmste Form von Dekadenz.
»Herr im Himmel, nein! Eher, wie man das meiste aus dem Gemüse im Garten macht und preiswerte Dinnerpartys organisiert.«
»Es gibt keine preiswerten Dinnerpartys!«, sagte Crouch missbilligend.
»Aber wenn er meint, es geht … Cheers!« Er hob sein Glas.
»Cheers. Mrs. Reeves, die Wirtin des Silver Bells, fürchtet, sie wären krank, weil Sie gestern Abend nicht im Pub waren.« Markby fand es sehr aufschlussreich, dass Barneys verwitterte Wangen einen Anflug von Röte zeigten.
»Hatte keine Lust«, murmelte Barney wenig überzeugend. Er schnitt sich eine Scheibe Brot vom Laib und begann damit, seinen Teller abzuwischen. Nach einem Augenblick hatte er offensichtlich seine Fassung zurückgewonnen und beobachtete:
»Adrette Person, Daphne. Genau die richtige Figur.«
»Äh, ja. Sie sind Stammgast im Silver Bells, wenn ich recht verstanden habe?«
»Ich bin kein Trinker!«, sagte Barney würdevoll.
»Ich bin Philosoph. Hin und wieder ein Glas ist ganz hilfreich, um die Gedanken zu klären und das eine oder andere verschwommene Problem zu verstehen. In vino veritas, Chief Inspector!«
»Ein guter Beobachter sind Sie wohl auch?« Crouch musterte seinen Gast aus zusammengekniffenen hellen Augen.
»Was gibt’s denn?«, fragte er.
»Haben Sie von dem Mord in unserer Gegend gehört?« Markby warf einen Seitenblick zu dem kleinen Radio auf dem Küchenschrank. Er hatte Crouch erfolgreich aufgeschreckt.
»Nein!« Er war Markbys Blick zum Radio gefolgt.
»Hab im Augenblick keine Batterien für das verdammte Ding! Wann war das? Was hat das mit dem Pub zu tun?«
»Das Opfer ist ein junges Mädchen. Wir konnten sie bis jetzt noch nicht identifizieren.« Markby zögerte. Das hier war wohl kaum der geeignete Augenblick, um ein grässliches Foto hervorzuziehen, nach diesem wundervollen Frühstück. Nachdem Markby über den Mord gesprochen hatte, fiel es leicht, zu erraten, dass es das Bild einer Toten war. Wie um Markbys Gedanken zu unterstreichen, rülpste Crouch diskret hinter vorgehaltener Hand.
»Wir glauben, dass sie letzten Donnerstag im Silver Bells gewesen ist. Wir interessieren uns außerdem für einen Mann, den Sie möglicherweise dort gesehen haben. Hat er sich mit ihr unterhalten?«
»So ist das also, wie?«, sagte Barney. Er öffnete eine weitere Flasche Stout. Seine Finger waren zwar knorrig, aber noch immer wohlgeformt und kräftig, die Nägel spatelförmig.
»Ich verstehe.«
»Die Frage lautet, haben Sie das Pärchen am Donnerstagabend gesehen?« Eine Pause entstand, während Barney einen tiefen Schluck aus seinem Glas nahm. Er wischte sich den Schaum vom Mund.
»Um die Wahrheit zu sagen, Chief Inspector, ich hab letzten Donnerstagabend ein paar sehr merkwürdige Dinge gesehen.«
»Tatsächlich?« Markby beugte sich vor. Die Bewegung ließ ihn augenblicklich deutlich spüren, dass sein Magen unbehaglich voll war.
»Aber ich geniere mich ein wenig, darüber zu reden. Bestimmt halten Sie mich für einen Dummkopf, oder vielleicht sagen Sie auch, ich war betrunken! Aber ich war nüchtern! Vielleicht ein wenig angedudelt, aber nicht so sehr, dass ich Dinge sehe, die es in Wirklichkeit nicht gibt!«
»Erzählen Sie mehr!«, lud Markby ihn ein.
»Ich glaube, was auch immer Sie gesehen haben, war tatsächlich da.«
»Also schön. Doch zuerst Ihr Pärchen im Silver Bells. Ich glaube, ich habe das Mädchen gesehen – und den Mann auch. Nicht, dass ich sie als Pärchen im gewöhnlichen Sinne des Wortes beschreiben würde. Sie sind nicht zusammen gekommen, aber sie sind zusammen gegangen.« Markby seufzte und zog das Bild aus der Tasche. Er reichte es Barney.
»O ja«, sagte Crouch und gab es zurück.
»Das ist sie. Ich weiß keinen Namen. Sie kommt aus Bamford, bestimmt. Normalerweise war sie immer mit ihren Freundinnen da. Es war immer das gleiche Geschäft.«
»Geschäft?«
»O ja«, sagte Crouch einmal mehr.
»Wer sie wollte, musste für sie zahlen.«
»Sie war sehr jung«, hörte Markby sich protestierend sagen.
»Ein Schulmädchen, wahrscheinlich gerade erst vierzehn!«
»Ich urteile nicht«, entgegnete Crouch.
»Ich beobachte. Nehmen Sie mein Wort dafür, sie ging auf den Strich!« Er schob seinen Stuhl zurück.
»Ich kenne ihren Namen nicht, und ich weiß auch sonst nichts über sie. Genauso wenig wie über den Mann. Vielleicht hab ich ihn vorher schon mal gesehen. Ein Einzelgänger. Ein Träumer vielleicht? Irgendein trauriger Fall, so viel steht fest.«
»Mord ist kein trauriger Fall, Mord ist grausam und brutal!«, sagte Markby scharf.
»Was sonst haben Sie noch gesehen, Barney?« Auf Crouchs Gesicht breitete sich eine Mischung aus Verlegenheit und Schläue aus.
»Es war nicht im Pub. Es war auf dem Heimweg. Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen. Ein kleiner Spaziergang ist gut für die Verdauung.«
Er führte Markby in Richtung Stadt zurück und bewältigte den Anstieg trotz seines Alters sehr flott. Er musste, schätzte Markby, um die Siebzig sein. Markby hatte nicht bemerkt, wie steil der Anstieg war, doch als sie oben angekommen waren, schmerzten seine Beine, und in seinem Magen schwappten die Nierchen und Würstchen und das Bier. Er war heilfroh über die steife Brise, die den Schweiß von seiner Stirn vertrieb.
»Hier«, sagte Barney und deutete, wie es schien, ins Nichts.
»Dort drüben. Wissen Sie, was das ist?« Markby sah hin. Er registrierte flechtenüberwachsene Torpfosten ohne Tor dazwischen, einen schmutzigen Weg voller Blätter und ein Gebäude, das in der dunklen Lücke zwischen den Bäumen schwer auszumachen war. Es sah aus wie eine kleine Kapelle.
»Das Mausoleum der Devaux«, sagte Barney.
»Damals ließ man sich mit Stil beisetzen. Nicht auf dem Stadtfriedhof, beim gewöhnlichen Volk. Sie zogen es vor, in der Nähe der Ländereien ihrer Vorfahren zu bleiben, von wo aus sie ein Auge auf ihre Erben werfen konnten. Das kleine Gebäude ist 1778 errichtet worden. Großartige Zeiten, Markby. Niemand machte einem Gentleman einen Vorwurf daraus, wenn er sein Geld ausgab, wie es ihm gefiel. Wäre ich damals auf der Welt gewesen und hätte das nötige Geld gehabt, ich hätte mir selbst ebenfalls so ein prachtvolles Monument errichtet. Sehen Sie es einmal so; denken Sie an die Arbeit, die dadurch für Maurer und Steinmetze geschaffen wurde, für die Bildhauer und den Poeten, der ein hübsches kleines Totengedicht schreiben durfte! Vor dem Krieg stand zwischen den Pfosten ein schönes schmiedeeisernes Tor, nach alten Fotografien zu urteilen. Vor meiner Zeit hier.« Markby blickte sich um und versuchte einzuschätzen, wo sie waren. Park House lag ein wenig weiter zur Linken. Das Mausoleum, falls es tatsächlich eines war, befand sich ganz am Rand des Anwesens. Es sah vollkommen verwahrlost und verlassen aus. Doch Barney überquerte nun die Straße, und Markby folgte ihm.
»Ich würde es Ihnen nicht zeigen oder auch nur darüber reden, Chief Inspector«, fuhr Barney fort,
»wenn ich nicht gestern wieder hergekommen wäre, nur um meine eigene Neugier zu stillen, und das dort gesehen hätte.« Er deutete auf tiefe Reifenspuren, die sich in die Blätter und den Matsch auf dem Weg gegraben hatten.
»Die haben mir verraten, dass ich nicht alles nur geträumt habe und dass es kein Spuk war!«
»In Ordnung«, sagte Markby.
»Treten Sie nicht drauf.« Barney drehte sich zu ihm um.
»Ich hab auf dem Zauntritt dort gesessen, sehen Sie? Hab hier herüber geblickt und ein Licht gesehen. Hoppla, dachte ich, scheint jemand in der Kapelle zu sein! Das war merkwürdig, weil sie eigentlich abgeschlossen sein müsste. Vor sechs Monaten war sie es nämlich, weil ich damals versucht hab, sie mir von innen anzusehen. Reine Neugier, verstehen Sie? Na ja, jedenfalls bin ich hergekommen, und siehe da, ich hab tatsächlich Licht in den Fenstern gesehen!« Sie waren vor der Kapelle angekommen. Markby betrachtete das Gemäuer. Es war ein kunstvolles Gebilde, das die beiden Obsessionen des achtzehnten Jahrhunderts reflektierte: den Tod und die klassische Architektur. Das Baujahr war in ein Giebeldreieck über der Tür eingemeißelt, getragen von vier ionischen Säulen. Die klaren Linien der Fassade waren durchbrochen von vier kleinen Türmen, einem an jeder Ecke. Das Gebäude spiegelte ohne jeden Zweifel den Wunsch wieder, Reichtum zur Schau zu stellen, der, wie Barney ausführte, auch damals schon erforderlich war, um sich einen privaten Begräbnisort zu leisten.
»Und als ich herkam«, sagte er in diesem Augenblick,
»begann ich mich zu fragen, wer dort drin sein mochte. Ich bin nicht abergläubisch, aber ich musste an Schwarze Messen denken, wie ich zugebe. Trotzdem hielt ich es noch immer für wahrscheinlicher, dass es nur ein Landstreicher war. Jemand, der in einer kalten Nacht Schutz gesucht hat. Vielleicht hatte er das Schloss aufgebrochen.« Barney zögerte.
»Es war kalt, Markby, dunkel und sehr kalt. Die Bäume raschelten im Wind, und es gab jede Menge anderer merkwürdiger Geräusche. Ich war mir sehr bewusst, dass ich allein unterwegs war, und obwohl ich nicht abergläubisch bin, verliert man in einer solchen Nacht rasch das Selbstbewusstsein. Und dann hab ich es gehört.« Markby spürte, wie ein unangenehmes Jucken über seine Wirbelsäule lief. Es gab mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …
»Was denn, Barney?«
»Irgendetwas hat gestöhnt, geächzt, sich abgemüht … jedenfalls klang es so, tut mir Leid, aber es klang so, als versuchte etwas, aus dem Grab zu klettern. Und ein kratzendes Geräusch. Dann öffnete sich die Tür … Es stank. Feucht, moderig, nach Verwesung und … und Tod.« Barney seufzte.
»Ich wandte mich ab und rannte. Ich gestehe, ich war in Panik. Ich rannte nach Hause und schloss mich ein. Gestern Morgen kehrte ich hierher zurück und sah mich ein wenig um. Ich fand die Wagenspuren und wusste, dass ich mich zum Narren gemacht hatte. Was auch immer ich gehört hatte, es war nichts Übermenschliches gewesen. Als es dann wieder dunkel wurde, verließ mich erneut der Mut. Ich beschloss, zur Abwechslung einmal nicht in das Pub zu gehen.« Markby war zur Tür getreten. Er streckte die Hand aus und drückte die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich mit einem leisen protestierenden Quietschen.
»Dieses Schloss ist nicht aufgebrochen. Es wurde mit einem Schlüssel aufgeschlossen und nicht wieder abgesperrt.«
»Ja, das habe ich auch gesehen. Das Schloss wurde sogar geölt. Aber es ist amateurhafte Arbeit.« Markby blickte auf seine Hand und den großen dunklen Ölfleck darauf. Er zog sein Taschentuch hervor und wischte das Öl ab.
»Dann werfen wir doch einen Blick hinein, oder nicht?« Das also hatte eine frühere Generation als angemessenen Ort für ihre Knochen betrachtet. Die Pfeiler bestanden aus unterschiedlichen Sorten von Marmor in verschiedenen Farben. Vielleicht reflektierte das Gebäude die griechisch-byzantinische Kultur und nicht die Akropolis. Geringelter Akanthus, dick mit Staub bedeckt, bildete die Kapitelle. Der Boden bestand aus Steinplatten. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kleiner Altar, doch verglichen mit dem prunkvollen Rest war er relativ einfach gehalten, kaum mehr als ein Symbol. Das hier war kein Ort der Gottesandacht, sondern der selbstherrliche Anspruch auf Unsterblichkeit im Bewusstsein der Menschen. Der Geist, den das Gebäude atmete, zeugte zu gleichen Teilen von Arroganz und tief verwurzeltem Heidentum. Zu beiden Seiten des Mittelgangs lagen die Generationen von Devaux in einer Reihe steinerner Sarkophage. In die Deckel waren ihre Namen eingemeißelt, das Alter, Geschlecht, der Todestag und jedes biografische Detail, das den Nachkommen erinnernswert erschienen war.
»Mitglied des Abgeordnetenhauses«, las Markby neugierig auf einem der Sarkophage, und ihm fiel auf, dass der Staub erst vor kurzem abgewischt worden war. Er runzelte die Stirn und hob den Blick. Über den Sarkophagen, in zwei langen Nischen, die sich über die Wände zogen, standen Reihen von Büsten, staubbedeckt und nicht besonders gut gearbeitet. Die Atmosphäre war unglaublich bedrückend und anachronistisch. Die frische Luft von der offenen Tür trug nur wenig dazu bei, den abgestandenen, muffigen Geruch zu vertreiben. Markby schnupperte. Er identifizierte Staub und Feuchtigkeit, zerfallenden Mörtel und Verwesung, kurz, all die Gerüche, die zu einer Krypta gehörten. Und darüber hinaus noch etwas anderes. Kerzenwachs. Barney, der ihn beobachtet hatte, deutete zur Decke.
»Dort oben.« Auf einem der Simse stand ein Kerzenstummel. Markby blickte sich um und bemerkte einen zweiten, auf einem Unterteller, der auf einem Sarkophag stand.
»Was halten Sie davon?«, erkundigte sich Barney rau.
»Schwarze Magie?« Markby ging zum andern Ende der Krypta, wo der Altar stand. Der Staub darauf war seit Jahren nicht mehr aufgewühlt worden.
»Nein«, sagte er.
»Irgendetwas anderes.« Er kehrte zu einem der Sarkophage zurück und betrachtete ihn genauer. An einer scharfkantigen, rechtwinkligen Marmorecke befand sich ein dunkler Fleck, und im hellen Lichtschein der offenen Tür bewegten sich zwei oder drei blonde Haare in der Zugluft. Vorsichtig berührte Markby den Fleck mit dem Zeigefinger. Er war klebrig. Der Chief Inspector hielt den Zeigefinger an die Nase und roch daran. Blut. Markby richtete sich auf und trat zurück, und dabei bemerkte er ein Glitzern in einem Riss zwischen den Platten, auf der Rückseite des Sarkophags. Vorsichtig umrundete er den Steinsarg und hebelte das Objekt mit einer dünnen Taschenmesserklinge aus dem Ritz. Es war ein billiges Goldkettchen, zerrissen, mit einem kleinen, L-förmigen Talisman daran. Hinter ihm sagte Barney unvermittelt:
»Das gefällt mir nicht!« Markby wirbelte herum.
»Sie haben den Wagen nicht gesehen? Er muss hier gewesen sein, irgendwo unter den Bäumen.«
»Es war dunkel!«, protestierte Crouch.
»Ich hab doch nicht nach einem Wagen Ausschau gehalten! Ich habe nicht damit gerechnet, irgendetwas Außergewöhnliches zu sehen! Möglich, dass unter den Bäumen ein Wagen stand. Falls ja, brannten keine Lichter. Wie hätte ich ihn sehen können?«
»Schon gut, Barney, beruhigen Sie sich!« Markby steckte die Goldkette in eine kleine Plastiktüte. Barney beobachtete ihn stirnrunzelnd.
»Was hat das alles zu bedeuten?«
»Wahrscheinlich etwas sehr Hässliches. Sie bleiben besser in der Nähe, Barney. Sie müssen Ihre ganze Geschichte noch einmal erzählen. Wir müssen ein Protokoll aufnehmen, das Sie anschließend unterschreiben. Sprechen Sie mit niemandem über diese Sache, außer mit der Polizei. Ganz bestimmt nicht mit der schwatzhaften Mrs. Pride!«
»Als würde ich mit Mrs. Pride schwatzen!«, erregte sich Barney.
»Ich rede so schon kaum mit ihr, aber es schreckt sie nicht ab, dennoch zu kommen!« Markby rief vom Wagen aus die Spurensicherung, dann setzte er sich hin und dachte nach, was er als Nächstes unternehmen sollte. Er würde auf jeden Fall nach Park House gehen und die Besitzer informieren müssen, dass ihr Mausoleum abgeriegelt und niemand in seine Nähe gelassen werden würde. Er würde wegen der unverschlossenen Tür nachhaken müssen und fragen, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden. Er musste Turner aufgabeln. Er warf einen Blick auf seine Uhr und sah bestürzt, dass es bereits nach dreizehn Uhr war. Wenigstens war Turner jetzt schon auf der Station in Bamford.
»Ich bin froh, dass Sie anrufen, Sir!«, kam ihre Stimme verzerrt aus dem Hörer.
»Als ich heute Mittag auf die Wache kam, warteten ein Mr. und eine Mrs. Wills. Ihre Tochter Lynne ist verschwunden. Sie haben die Nachrichten im Radio gehört und befürchten, es könne die Leiche ihrer Tochter sein. Die allgemeine Beschreibung, die die beiden abgegeben haben, scheint jedenfalls zu passen.«
Lynne. Ein Halskettchen mit einem L-förmigen Talisman daran.
»Gut. Sie bringen die Wills besser zum Leichenschauhaus. Falls die Identifikation positiv verläuft, bringen Sie sie zurück zur Wache und warten dort auf mich. Ich komme auf dem schnellsten Weg hin.«
»Jawohl, Sir«, sagte sie tonlos. Er hatte ihr eine unangenehme Aufgabe zugewiesen. Es war immer eine schlimme Sache, Verwandte um die Identifikation eines Leichnams zu bitten. Und Eltern zu bitten, ihr totes Kind zu identifizieren, war die schlimmste von allen. Markby fuhr seinen Wagen den Hügel hinauf und parkte auf der dem Mausoleum gegenüberliegenden Straßenseite. Er überquerte die Straße und wanderte vorsichtig durch das verschlungene Unterholz, bis er an der Grundstücksgrenze angelangt war. Er blickte über eine niedrige Steinmauer hinweg auf eine grasbewachsene Parklandschaft. In der Ferne war der Ostflügel von Park House deutlich zu erkennen. Aber was konnte man von Park House aus sehen? Niemand hätte am Donnerstagabend die Scheinwerfer bemerkt, es sei denn, er hätte zufällig aus dem Fenster geblickt. Niemand hätte den Wagen unter den Bäumen gesehen, dessen Lichter bereits ausgeschaltet gewesen waren, als Barney auf dem Schauplatz eingetroffen war. Und das Kerzenlicht in der Kapelle? Viel zu schwach und verdeckt von den Bäumen. Die Bewohner von Park House hatten wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, was in ihrem Familiengrab vorgefallen war. Oder vielleicht doch? Ein geöltes Schloss bedeutete, dass es einen Schlüssel geben musste – in diesem Fall einen großen, altmodischen Schlüssel. Hatte irgendjemand aus Park House das Mausoleum aufgesperrt? Falls ja – aus welchem Grund? Markby versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was er über die Conways wusste, und stellte überrascht fest, dass es herzlich wenig war. Matthew Conway führte seine Geschäfte von der Villa aus, aber sie hatten nichts mit der Stadt zu tun, und Matthew war nur sehr selten in Bamford anzutreffen. Mrs. Conway? Sie musste eine geborene Devaux sein. Hmmm … dachte Markby. Sie gehörte zu jener Sorte Frauen, deren Stellung in der lokalen Gesellschaft üblicherweise zur Folge hatte, dass sie im Umkreis von vielen Meilen in jedem wohltätigen Komitee saß. Doch das war hier nicht der Fall. Markby konnte sich nicht erinnern, dass ihr Name einmal in diesem Zusammenhang erwähnt worden wäre. Sehr eigenartig. Ein unangenehmes Brennen in der Magengegend riss ihn aus seinen Gedanken und signalisierte den Beginn einer gewaltigen Magenverstimmung. Er würde auf dem Rückweg zur Wache bei der Apotheke halten müssen. Markby wandte sich um und hielt stirnrunzelnd inne. In der Ferne war ein Schrei erklungen, ein Kreischen, wie von einem Schwein.
»Kann nicht sein«, murmelte er zu sich selbst.
»Park House betreibt keine Landwirtschaft.« KAPITEL 8
»Sie haben ja wirklich ’ne Menge Leute für den Fall abgestellt, wie es aussieht!«, meinte Barney Crouch. Es war einige Zeit später, und sie fuhren an dem soeben eingetroffenen Spurensicherungsteam vorbei, das geschäftig seine Instrumente auspackte. Außerdem mühten sich zwei Constables ab, Eisenstangen in den harten Boden zu hämmern, um anschließend das Plastikband zu spannen, das den Fundort weitläufig absperren würde.
»Kommen die etwa alle von der Bamforder Wache?«
»Herr im Himmel, nein!«, antwortete Markby verblüfft.
»Die meisten kommen vom Bezirkspräsidium. So viel Personal haben wir in Bamford nicht.«
»Aber Sie leiten die Show, wie? Diese Morduntersuchung, meine ich?«
»Ich wurde darum gebeten, ja.« Markby musste unwillkürlich an Norris denken – was seiner Verdauung nicht gerade förderlich war.
»Ich hab mal ein Drehbuch für einen Detektivfilm geschrieben, in den alten Tagen, als es noch B-Movies gab. Routinearbeit, aber es hat eine Menge Spaß gemacht. Der Inspector in diesem Film trug einen Regenmantel aus Gabardine und einen Schlapphut.« Barney warf einen Seitenblick auf Markbys abgetragene Barbourjacke.
»Und selbst die kleinsten Ganoven nannten ihn ›Sir‹. Sie sehen ihm überhaupt nicht ähnlich.« Markby widerstand dem Impuls, sich für sein Aussehen zu entschuldigen und zu erklären, dass es heutzutage schwierig war, die Anfänger dazu zu bewegen, ihn mit
»Sir« anzureden. Er fragte sich, wie viele Leute wohl noch eine Vorstellung von der Polizeiarbeit hatten, die wie Barneys offensichtlich aus der Zeit des Schwarzweißfilms stammte, und das trotz all der grimmigen Realität, die dieser Tage im Fernsehen zu sehen war. Vielleicht sehnte sich das Publikum nach der Rückkehr der Männer mit den Schlapphüten, den gestutzten Schnurrbärten und dem dazu passenden abgehackten Akzent. Den Männern, die grenzenloses Vertrauen in ihre Integrität erweckt und den Tunichtguten aller Couleur Albträume beschert hatten. Markby hoffte nur, dass die Öffentlichkeit noch immer im Großen und Ganzen von der Ehrlichkeit der meisten Polizisten überzeugt war. Wenn es allerdings um Detektivarbeit ging, so beschlich Markby das merkwürdige Gefühl, dass die meisten Menschen mehr Vertrauen in den Kameraden mit den
»kleinen grauen Zellen« setzten. Auf der Wache übergab er Barney in die Obhut eines Constable, damit dieser seine Aussage zu Protokoll nehmen konnte. Anschließend glättete er sein Haar, wappnete sich innerlich und machte sich auf die Suche nach Turner sowie Mr. und Mrs. Wills.
Er fand sie in seinem Büro. Teetassen, die niemand angerührt hatte, standen auf seinem Schreibtisch. Turner sah bleich und niedergeschmettert aus, doch sie machte ihre Sache gut. Im Stillen leistete er ihr Abbitte. Die Identifikation war positiv verlaufen, das war nicht zu übersehen. Eigentlich hätte er darüber zufrieden sein müssen, denn es bedeutete einen beträchtlichen Fortschritt für die Ermittlungen, und Norris würde für eine Weile aufhören, ihm im Nacken zu sitzen. Doch als er die beiden Eltern des Mädchens musterte, überkam ihn tiefe Niedergeschlagenheit.
Sie saßen dicht beieinander und hielten sich verlegen die Hände, was sie wahrscheinlich seit zwanzig Jahren nicht mehr getan hatten. Sie gehörten nicht zu der Sorte Menschen, die öffentlich Zuneigung zur Schau stellten. Doch jetzt, in ihrer Trauer, suchten sie gegenseitigen Halt und Trost in der Berührung.
Mr. Wills war ein dünner Mann mit spärlichem, drahtigem grauen Haar, und er trug eine navyblaue Öljacke. Seine dickliche Frau, deren Leibesfülle von einem wattierten Automantel noch betont wurde, starrte mit mühsam unterdrückter Wut und verzerrtem Gesicht auf ihre Umgebung. Wills hingegen sah aus, als könnte er es immer noch nicht fassen. Als Markby eintrat, sah er mit teilnahmslosem Blick auf und sagte:
»Es war unsere Lynne.«
Er hatte es offensichtlich bereits mehrfach gesagt, und es war weniger an Markby gerichtet als an sich selbst, als würden die schrecklichen Geschehnisse durch die ständige Wiederholung fassbarer werden. Er hatte ohne jeden Zweifel einen heftigen Schock erlitten.
Markby stellte sich vor, drückte ihnen sein Mitgefühl aus sowie sein Bedauern, dass sie die Qual der Identifikation der Toten hatten durchmachen müssen. Er meinte seine Worte aufrichtig, und doch hatte er dabei ein Gefühl, als sei er nicht ganz ehrlich. Wahrscheinlich lag es daran, dass er mehr über Lynne wusste, Dinge, die ihren Eltern allem Anschein nach unbekannt waren, und er würde es ihnen sagen müssen. Ihr Schmerz würde dadurch nur noch größer werden.
Vielleicht spürte Mrs. Wills, was er dachte. Sie beugte sich kampflustig vor.
»Sie war ein gutes Mädchen, unsere Lynne! Sie hat nie Probleme gemacht! Sicher, sie war sehr lebhaft, aber das sind doch alle Mädchen in ihrem Alter! Sie ist gerne mit ihren Freundinnen ausgegangen und hat sich so eigenartig angezogen, wie das eben alle heutzutage tun. Ich habe ihr oft gesagt, dass sie zu viel Make-up benutzt, aber das tun auch alle, oder nicht? Lynne hat nie Probleme gemacht!«
»Was können Sie uns über Donnerstagabend erzählen, Mrs. Wills? Um welche Zeit verließ Ihre Tochter das Haus? War sie alleine, oder ist sie mit einer Freundin weggegangen?«
»Sie ging, warten Sie, kurz nach halb acht. Nikki hatte gerade angerufen.« Mr. Wills rührte sich und schien in die Gegenwart zurückzukehren.
»Ich mochte Nikki nie!« Er blinzelte.
»Kennen Sie vielleicht Nikkis richtigen Namen? Ist Nikki ein Junge oder ein Mädchen?«
»Ein Mädchen. Ich kenne ihren Nachnamen nicht. Sie wohnt in einem von diesen neuen Mietshäusern, wo früher die alte Gospel Hall gestanden hat. Aber sie ist am Donnerstag nicht mit Lynne ausgegangen. Das wollte ich Ihnen gerade sagen! Normalerweise ruft Nikki immer an, um mit ihr auszugehen, aber an diesem Donnerstag sagte sie, dass sie nicht könne, also ging Lynne alleine weg. Ich denke, sie hat sich später mit anderen Freundinnen getroffen, oder mit Freunden, wie die Jugendlichen das heute so tun, oder nicht?« Sie funkelte Markby an. Ihre Art und Weise, mit der Situation fertig zu werden, bestand offensichtlich darin, jeden anzugreifen, Polizeibeamter oder nicht, der es wagte, ihre Tochter mit Schmutz zu bewerten.
»Ich weiß überhaupt nicht, warum irgendjemand unserer Lynne etwas antun sollte!«, sagte Mr. Wills mit verwirrter Stimme. Unvermittelt blickte er auf.
»Sie hat einen Preis im Stepptanz gewonnen, als sie gerade mal acht Jahre alt gewesen ist, erinnerst du dich, Rita?« Das simple Wachrufen gemeinsamer Erinnerungen erschütterte Mrs. Wills’ sorgfältig bewahrte Fassung. Sie packte die Hand ihres Mannes fester.
»Ja!«, sagte sie und wandte den Kopf zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Markby ging zu Helen Turner und sagte leise:
»Organisieren Sie einen Wagen, der die beiden nach Hause bringt, falls sie keine eigene Transportmöglichkeit haben. Sie scheinen im Augenblick nicht in der Verfassung zu sein, über irgendetwas zu reden.«
»Sie war übrigens vierzehn«, murmelte Turner. Ein Schulmädchen. Markbys Nichte Emma war zwölf und noch immer ein Kind, aber sie wurde sehr schnell erwachsen. Wie schnell? Wie würde sie mit vierzehn sein? Die Zeit verging so rasch. Für die beiden Wills hier war Lynne wohl noch immer ein kleines, stepptanzendes Wunderkind. Konnte Barney tatsächlich Recht gehabt haben mit seiner Vermutung, dass Lynne auf den Strich gegangen war?
»Versuchen Sie, diese Nikki zu finden. Jeder auf dem Revier kann Ihnen sagen, wo diese Mietshäuser stehen. Ich fahre nach Park House, um mit den Conways zu reden. Wir müssen sie unterrichten, was wir auf ihrem Grundstück tun, und dann ist da noch die Sache mit dem Schlüssel für … für diese Kapelle.« Er blickte zu den Wills, doch die beiden hörten nicht zu. Mrs. Wills mühte sich mit den Knöpfen ihres Mantels ab, während ihr Ehemann sie dabei beobachtete, als könne er nicht verstehen, was daran so schwierig war. Turner nickte erneut und stand auf, um das Paar nach draußen zu begleiten. In der Tür drehte sich Mrs. Wills noch einmal um und fixierte Markby mit einem Blick, der überraschend heftige Feindseligkeit ausdrückte.
»Sie werden ihn finden!«, befahl sie rau.
»Und zwar schnell. Denn wenn Sie ihn nicht finden, dann finde ich ihn, bei Gott! Und wenn ich mit ihm fertig bin, wird nicht mehr viel von ihm übrig sein!«
»Wir werden ihn finden, Mrs. Wills«, versicherte er ihr und hoffte, dass es der Wahrheit entsprechen würde. Unerwartet mischte sich Mr. Wills ein.
»Es ist gut, Rita!«, sagte er leise und legte seiner Frau den Arm um die Schultern.
Als Markby wieder die Treppe hinunterkam, stand Barney Crouch vor dem Eingang, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun sollte.
»Bringt Sie schon jemand nach Hause?«, fragte Markby.
»Man hat es mir freundlicherweise angeboten.« Crouch blickte ein wenig verlegen drein.
»Aber wo ich schon mal in Bamford bin, dachte ich, ich könnte gleich Doris Pride einen Besuch abstatten. Oh, keine Sorge!«, fügte er hastig hinzu.
»Mir ist durchaus bewusst, dass ich nicht über diese Angelegenheit sprechen darf. Andererseits, wenn ich sie heute besuche, erspare ich ihr vielleicht den Weg zu meinem Haus. Wissen Sie, das Dumme ist, dass sie immer unangekündigt hereinschneit. Ich werde einfach zu ihr gehen und sehen. Vielleicht ist sie ja auch unterwegs, man weiß nie«, schloss er optimistisch. Markby verabschiedete sich von ihm und fuhr zur nächstgelegenen Apotheke, wo er zwei Packungen Verdauungstabletten kaufte und sich anschließend, eine nach der anderen kauend, auf den Weg nach Park House machte.
Matthew Conway saß im bleichen Licht der Novembersonne an seinem Schreibtisch. Das Zimmer war warm, denn als er diesen Flügel des Hauses zu Büroräumen hatte umbauen lassen, war eine Zentralheizung gleich mit installiert worden. Sie war nicht auf den Rest des Hauses ausgeweitet worden, denn Adeline hatte sich rundweg geweigert, die Arbeiter hereinzulassen, sodass das Haus in den kältesten Monaten des Winters den Komfort einer mittelalterlichen Abtei bot. Häufig kam Katie, das arme Kind, abends zu ihm ins Büro, um ihre Hausarbeiten zu machen, weil sie sich in ihrem Zimmer trotz des elektrischen Heizöfchens die Finger steif fror.
Matthew rieb sich mit der Hand über die Augen. Er war müde, und er machte sich Sorgen. Vor ihm lag ein Stapel Briefe, ordentlich zusammengeheftet und mit Kommentaren versehen. Maria war eine äußerst effiziente Sekretärin, und sie würde sich in Kürze bei ihm melden und sich erkundigen, ob er bereits alles durchgesehen hatte. Manchmal glaubte er beinahe, dass sie zu perfekt war. Der ein oder andere Lapsus – natürlich nichts Schlimmes! – wäre ihm ganz gelegen gekommen. Nicht, dass sie in anderer Hinsicht nicht menschlich gewesen wäre und nie mit ihm über ihre Gefühle oder Pläne gesprochen hätte – doch auch diese Pläne waren Anlass zu Sorge, denn Maria wollte weit mehr, als er ihr bieten konnte, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt.
Es ging schließlich nicht nur um Adeline, sondern auch um seine Tochter Katie. Er würde niemals etwas tun, das sein kleines Mädchen betrüben könnte, und sein kleines Mädchen hasste Maria wie die Pest. Maria hielt Katie für verzogen, was natürlich Unsinn war. Maria hatte keinen Bezug zu Kindern, eines jener Felder, wo er sich gewünscht hätte, dass sie wenigstens andeutungsweise so etwas wie Schwäche gezeigt hätte, aber nein. Außerdem – zu viel Schwäche, und sie würde enden wie Adeline. Er saß in einer Zwickmühle zwischen den Frauen in seinem Leben, und seine Lage wurde zunehmend verzweifelter.
Adeline. Wie sollte er sich hier und heute konzentrieren, nach jenem eigenartigen Erlebnis letzte Nacht? Er war wie üblich zu Bett gegangen und eingeschlafen. Dann, so gegen zwei Uhr morgens, war er mit einem Gefühl aufgewacht, dass etwas nicht stimmte. Einem derart eigenartigen Gefühl, dass seine Nackenhaare sich aufgerichtet hatten und seine Zunge ganz pelzig geworden war. Er hatte sich in seinem Bett aufgesetzt. Das Haus lag so still, wie ein derart altes Haus nur liegen kann: Das übliche Knarren war zu hören, das Ächzen von altem Holz und ineffizienten Wasserleitungen, die noch aus viktorianischer Zeit stammten, das Pfeifen des Windes durch die alten Scheiben, das Rascheln eines Vorhangs in der Zugluft, von der es im Haus reichlich gab. Und dann – ein lauteres Knarren, von der Treppe her.
Matthew schlüpfte aus dem Bett, warf sich seinen Morgenmantel über und öffnete vorsichtig die Tür. Sie hatten ein einfaches Alarmsystem im Haus, und wahrscheinlich war es nur eine Treppenstufe gewesen, die sich in der nächtlichen Kälte verzogen hatte. Er lauschte. Nein, irgendjemand bewegte sich leise unten in der Halle, kein Zweifel möglich.
Er trat auf den Korridor hinaus und beugte sich über die Balustrade, die um die Galerie im ersten Stock verlief. Es war niemand zu sehen, doch die Tür zum Salon stand offen, und ein schwacher Lichtschein fiel auf den Flur hinaus. Dort unten war jemand, und er hatte eine Tischlampe eingeschaltet. Der Lichtstrahl bewegte sich nicht, wie es der Schein einer Taschenlampe getan hätte.
Matthew wurde bewusst, wie kalt es war und dass er versäumt hatte, seine Hausschuhe anzuziehen. Jetzt war es zu spät, um zurückzugehen und sie zu holen. Er schlich die Treppe hinunter, dicht an der Wand entlang, um das Knarren der Stufen zu unterdrücken, bis er die Tür des Salons erreicht hatte. Sie stand einen Spaltbreit offen, und vorsichtig spähte er hindurch.
Wie vermutet brannte eine der Tischlampen und verbreitete einen schwachen Lichtschein im Salon, der voller Schatten und dunkler Flecken war. Matthew sah die Überreste des Feuers, das dunkelrot und schwach hinter dem für die Nacht angebrachten Sicherheitsgitter glühte. Er ging das Risiko ein und öffnete die Tür ein wenig mehr.
Eine dürre Gestalt stand auf der anderen Seite am Fenster, hielt den Vorhang mit bleicher Hand zur Seite und starrte in die Nacht hinaus. Es war eine Frau in einem weißen Gewand, mit wirrem langen Haar, das ihr bis weit über die Schultern fiel. Erschrocken wurde ihm bewusst, dass es seine Frau war, mit offenen Haaren und in einem leichten Morgenmantel aus Satin über dem Schlafanzug.
Er öffnete bereits den Mund, um zu fragen, was um alles in der Welt sie da mache, doch dann fiel ihm ein, dass es gefährlich war, Schlafwandler aufzuwecken. Wenn sie tatsächlich schlafwandelte. Er erinnerte sich, dass sie in letzter Zeit des Abends häufiger an jenem Fenster gestanden und nach draußen gestarrt hatte, obwohl es außer dem leeren Park im Mondschein nicht das Geringste zu sehen gab. Es erstaunte ihn nicht wenig, sie hier vorzufinden denn er kannte ihre Angst vor der Dunkelheit. Es bestärkte ihn noch in der Annahme, dass sie schlafwandelte. Doch was war es, was sie dort draußen sah, ob nun bewusst oder unbewusst?
Das heruntergebrannte Feuer im Kamin prasselte, und ein paar Funken stoben auf. In den zu neuem Leben erwachten Flammen konnte er ihre Umrisse vor dem Hintergrund der dunklen Vorhänge deutlicher erkennen, und was er sah, ließ ihn den Atem anhalten. Sie war wunderschön, trotz ihrer abgemagerten Gestalt. Ihr Gesicht passte so sehr zu dem zerbrechlichen Körperbau. So bewegungslos, wie sie dastand, erinnerte sie ihn an eine klassische Statue. Und dann stellte er zu seiner größten Überraschung fest, dass er weinte und die Tränen lautlos über seine Wangen liefen. Er weinte wegen all dem Glück, das er einst erlebt und das nun verloren war, wegen des Mädchens, das er einst geheiratet hatte, und wegen seiner Jugendträume, und er wünschte sich, alles wäre anders gekommen.
Er wischte sich die Tränen ab. Sie musste irgendetwas gehört haben, denn sie drehte den Kopf und blickte direkt in seine Richtung. Hastig zog er sich von der Tür zurück und drückte sich in das Dunkel unter der Treppe. Er hörte, wie sie den Raum durchquerte, und er hörte ein Klicken, als die Tischlampe ausgeschaltet wurde. Machte ein Schlafwandler so etwas? Lampen ein- und ausschalten? Adeline verließ den Salon, ging durch die Halle, ohne ihn in seinem Versteck zu bemerken, und stieg die Treppe hinauf.
Einen Augenblick später hörte er, wie ihre Schlafzimmertür geschlossen wurde. Er löste sich aus seinem Versteck und schlich mit Füßen wie Eisblöcken in den Salon, um nachzusehen, was seine Frau so fasziniert hatte. Falls es überhaupt etwas zu sehen gab!
Doch da war nur Mondlicht über dem Park, die ferne Silhouette der Bäume und dazwischen ein eigenartiger, wie ein Pfefferstreuer geformter Umriss, wohl einer der Türme dieses grässlichen Mausoleums, das die Devaux-Familie sich errichtet hatte. Kurz gesagt – nichts.
Etwas Warmes, Weiches streifte an seinem nackten Unterschenkel entlang, und er zuckte zusammen und fluchte unterdrückt. Als er instinktiv austrat, erhielt er zur Antwort ein Fauchen. Es war Sam, der Kater, der Adeline wie stets auf Schritt und Tritt folgte. In früheren Zeiten, dachte er bitter, hätte Aberglaube den Kater als Adelines Schutzgeist abgestempelt, und beide wären verbrannt worden!
Er war wieder ins Bett zurückgekehrt, entschlossen, am nächsten Morgen Prue davon zu erzählen – und dem Doktor, wenn er das nächste Mal anrief. Doch heute, nachdem er die ganze Nacht nicht hatte schlafen können, hatte er Prue gegenüber nichts erwähnt. Er wusste nicht einmal genau, warum. Stattdessen hatte er Maria überredet, am Samstag zu arbeiten, und ihr dafür zu einem späteren Zeitpunkt einen freien Tag versprochen. Er wollte in seinem Büro sein und sich beschäftigen und nicht auf der anderen Seite dieser trennenden Tür sitzen. Er wusste, dass er sich versteckte, dass er vor dem Chaos davonlief, das sein häusliches Leben darstellte. Maria hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, doch sie wusste immer gleich ganz genau, wenn irgendetwas nicht stimmte. Er hatte ihren abschätzenden Blick bemerkt, als sie eben ins Büro gekommen war und feststellte, dass er nicht arbeitete, sondern nur dumpf brütend dasaß.
Nun hörte Matthew ihre Stimme auf der anderen Seite der Tür und schrak zusammen. Schuldbewusst scharrte er die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen. Dann vernahm er eine männliche Stimme, in befehlsgewohntem Ton, und er fragte sich, wer um alles in der Welt das wohl sein mochte. Niemand, der geschäftlich zu ihm wollte, nicht am Samstag.
Maria öffnete die Tür mit gerötetem Gesicht.
»Es ist die Polizei«, sagte sie knapp.
KAPITEL 9
»Also, es tut mir Leid, dass ich nicht rausgekommen bin, um Sie zu besuchen, Barney«, sagte Mrs. Pride energisch.
»Aber ich bin im Augenblick sehr beschäftigt. Ich habe diese junge Polizistin zur Untermiete bei mir aufgenommen, und in der Damengesellschaft hausiert die Grippe wie der Assyrer.«
»Meine Güte!«, sagte Barney.
»Irgendein ausländischer Bursche, der den Damen reihenweise die Herzen bricht?«
»Reden Sie keinen Unsinn! Sie wissen ganz genau, dass ich ein Gedicht zitiert habe.«
»Ja, sicher. Lord Byron. Ah, Doris, so schreibt heute niemand mehr. Was für ein Genie, und was für ein wunderbarer Gesellschafter.«
»Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mich um Sie sorge«, sagte Mrs. Pride ohne jeden Groll.
»Ich habe dieses Gedicht 1943 beim Weihnachtskonzert unserer Schule aufgesagt, in der Nacht, in der ein deutscher Bomber auf Marsh Hollow abgestürzt ist. Am nächsten Tag sind wir alle hingelaufen, um das Wrack zu besichtigen, und haben dem Farmer einen Sixpence gezahlt, um in das Cockpit klettern zu dürfen. Noch etwas Tee? Was hat Sie eigentlich nach Bamford geführt? Und erzählen Sie mir nicht, Sie wären gekommen, um mich zu besuchen, das glaube ich Ihnen nämlich nicht.«
»Offen gestanden, Doris, die Polizei hat mich nach Bamford gebracht, und bevor Sie jetzt an die Decke gehen, ich habe der Polizei Informationen gegeben und wurde gebeten, eine Aussage zu Protokoll zu geben. Ich darf Ihnen nicht erzählen, worum es im Einzelnen geht. Tut mir Leid.« Sie funkelte ihn an.
»Sie sind das nervigste Mannsbild das ich je gekannt habe. Und sehen Sie sich nur an! Sie wollen mir erzählen, dass Sie in diesem abgetragenen alten Hemd und in diesen schmutzigen Schuhen zur Polizei gegangen sind? Wirklich ein Wunder, dass man Sie nicht gleich in eine Zelle gesteckt hat!« Beide schwiegen. Das Gasfeuer zischte behaglich, und sie tranken ihren Tee. Barney wischte mit feuchtem Zeigefinger Krümel von seinem Teller.
»Was Sie doch für schreckliche Manieren haben!«, sagte Mrs. Pride resigniert.
»Bleiben Sie zum Essen hier? Falls ja, dann benehmen Sie sich bitte. Eine junge Dame wird ebenfalls kommen.«
»Ich habe schon gegessen, Doris. Ich denke, ich gehe jetzt.« Barney erhob sich mühsam aus den komfortablen Tiefen seines Polstersessels und warf einen bedauernden Blick auf das Feuer.
»Es gibt gebratene Schweinekoteletts mit Gemüse, Kartoffelpüree und Apfelstreusel«, sagte Mrs. Pride nonchalant. Er sank wieder zurück.
»Doris …«, sagte er voll tiefer Bewunderung.
»Welcher Mann könnte da widerstehen?«
Als Markby bei Park House ankam, fand er das Tor weit offen. Doch die Durchfahrt zwischen den beiden Pfeilern war von einer Barriere in Form eines Viehgitters versperrt: eine Reihe flach liegender paralleler Stangen in handbreiten Abständen über einer Mulde, die streunendes Vieh am Überqueren hindern sollte. Der Wagen ratterte über die Stangen und auf den langen, nicht allzu gepflegten Kiesweg. Die einst dekorative Buchsbaumhecke rechts und links des Weges war nicht geschnitten und in Markbys Gärtneraugen eine Schande. Einige Sträucher benötigten dringend einen ornamentalen Schnitt, doch es war fast unmöglich zu sagen, wie die überwucherten Umrisse ursprünglich ausgesehen hatten. Sie säumten die Auffahrt wie ein Spalier aus Mutanten.
Das Haus ein Stück weit voraus sah düster aus, trotz seiner anmutigen Fassade. Als Markby näher kam, konnte er sehen, dass das Gebäude – genau wie die Auffahrt – vernachlässigt war. Er versuchte sich die jährlichen Kosten für den Unterhalt des Anwesens vorzustellen. Sie mussten horrend sein. Andererseits besaß Matthew Conway den Ruf eines sehr reichen Mannes, und er benutzte dieses Haus als Firmensitz. Schon aus diesem Grund hätte Markby erwartet, Park House in besserem Zustand vorzufinden.
Es war gut, dass er langsam gefahren war. Ohne Vorwarnung sprang ein schlaksiger Mann mit wildem Haarwuchs zwischen den Buchsbäumen hervor, stellte sich mitten auf den Weg, fuchtelte wild mit den Armen und rief:
»Stopp!«
Markby trat heftig in die Bremse und hielt in einer Wolke umherfliegender Kiesel. Er kurbelte das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus.
»Was ist denn?«, fragte er in scharfem Ton.
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer der Fremde war. Sein erster Eindruck war, dass irgendein missgestalteter Busch Leben angenommen und seinen Platz in der Hecke verlassen hatte. Das Alter des Mannes war nicht zu bestimmen, das Gesicht sah aus wie das eines alten Kindes. Er trug einen schmuddeligen Pullover und Kordhosen, die in schmutzigen Gummistiefeln steckten. Während er auf Markby zuschlurfte – noch immer mit den Armen fuchtelnd, als könne er sie nicht unter Kontrolle halten –, ging ihm ein charakteristischer Geruch voraus. Es roch unverwechselbar nach …
»Schweine!«, brüllte der Mann Markby mitten ins Gesicht.
Es war gewiss keine ungewohnte Erfahrung für Markby, mit Schimpfworten bedacht zu werden, und das Attribut
»Schwein« für einen Polizeibeamten war in manchen Kreisen ganz normaler Sprachgebrauch. Doch jetzt wich Markby erschrocken zurück, weil er nicht wusste, wie dieser Halbirre ihn in seiner zivilen Ausstattung hatte identifizieren können oder was er, Markby, getan hatte, um einen direkten Angriff zu provozieren.
Bevor er irgendetwas Diesbezügliches sagen konnte, brüllte der Mann weiter:
»Die Schweine kommen durch! Sie müssen warten, oder Sie fahren die Mistviecher über’n Haufen!«
Bei diesen Worten durchschnitt ein lautes Quieken und Grunzen die Luft. Vor Markbys erstaunten Blicken brach eine kleine Herde Schweine durch die Buchsbaumhecke und trampelte aufgeregt um den Wagen. Markbys Vorstellung von Schweinen basierte auf den großen, weißen Hausschweinen, die träge in ihrem Stall lagen und hofften, dass irgendjemand vorbeikam, der ihnen den Rücken kratzte. Diese Schweine hier besaßen ein braunes, struppiges Fell und waren extrem agil. Sie wirkten außerdem kampflustig. Vielleicht waren sie hungrig.
»Sie bleiben da stehen, Sir!«, brüllte der Schweinehirte.
»Ich bring sie weg.« Er begann umherzurennen und seine lärmende Horde zusammenzutreiben, bis er, noch immer wild mit den Armen fuchtelnd, mit seiner Herde durch die Buchsbäume auf der anderen Seite des Kieswegs war und außer Sicht geriet. Nur ärgerliches Quieken und Kriegsrufe hallten noch zu Markby zurück.
»Das wird von Minute zu Minute eigenartiger«, murmelte Markby und ließ den Motor wieder an.
»Was erwartet mich sonst noch?« Wenigstens hatte er nun eine Erklärung für das Viehgitter an der Einfahrt. Die Fassade des Hauses bedurfte einer dringenden Totalrenovierung. Als Markby aus dem Wagen stieg, sah er, dass ganze Klumpen Putz aus den korinthischen Säulen des Vordachs gefallen waren und Moos die Fundamente sowie die Stufen überwucherte, die hinauf zum Eingang führten. Er zog an der altmodischen Türglocke, doch nichts geschah. An der Mauer neben der Tür hing ein kleines Holzschild, auf dem zu lesen stand:
»Zum Büro bitte hier entlang«, darunter ein Pfeil, der zur Seite des Gebäudes zeigte. Es war Samstag, doch ein Versuch konnte nicht schaden. Außerdem schien es keine Alternative zu geben. Er folgte dem Pfeil und fand eine kleine, schwarz gestrichene Tür mit einem modernen Klingelknopf. Und er hatte Glück: Hinter der Tür war das Geräusch einer Schreibmaschine zu hören. Die Tür wurde geöffnet, und es bot sich ihm ein Anblick, der auf seine Weise genauso unglaublich war wie kurze Zeit zuvor der Schweinehirt mit seiner Herde. Markby sah sich einer sehr vornehm aussehenden jungen Frau gegenüber, gekleidet in ein purpurfarbenes Geschäftskostüm, bestehend aus einer Jacke mit goldenen Knöpfen und goldener Litze sowie einem sehr kurzen Rock. Die langen, wohlgeformten Beine steckten in schwarzen Strümpfen und endeten in Schuhen mit StilettoAbsätzen. Ihr weißblondes langes Haar war nach hinten gebürstet und wurde von einem schwarzen Samtband zusammengehalten. Sie trug eine Menge Make-up, gewaltige kunstvolle Ohrringe, und sah aus, als käme sie direkt von der Titelseite eines dieser aggressiveren Hochglanz-Magazine für die Frau von heute. Markby schätzte sie auf knapp über dreißig. Während er sie anstarrte, betrachtete sie ihn aus scharfen grauen Augen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sie sich mit transatlantischem Akzent. Er zog seine ID hervor und fragte, ob es möglich sei, Mr. oder Mrs. Conway zu sprechen. Sie nahm den kleinen Ausweis entgegen. Ihre Fingernägel waren passend zum Kostüm lackiert.
»In welcher Angelegenheit? Ich bin Mr. Conways persönliche Assistentin. Mrs. Conway empfängt keinen Besuch.«
»In einer polizeilichen«, sagte Markby entschieden und beschloss, dass der Zeitpunkt gekommen war, die Initiative wieder an sich zu reißen. Irgendwo hinter ihr im Haus erwachte eine Büromaschine zum Leben. Die Frau blickte über die Schulter.
»Er ist im Augenblick beschäftigt.«
»Das bin ich ebenfalls«, antwortete Markby mit noch größerer Entschlossenheit. Ihre Blicke begegneten sich, und es fand ein kurzer, lautloser Willenskampf statt.
»Also schön, kommen Sie herein«, gab sie schließlich nach.
»Ich werde gehen und fragen, ob er fünf Minuten erübrigen kann.«
»Danke sehr«, sagte Markby und widerstand dem Impuls hinzuzufügen:
»Machen Sie das.« Das Büro war – in scharfem Kontrast zum Äußeren des Hauses – ultramodern eingerichtet. Der Kontrast war so krass, dass sich die Devaux, die das Haus gebaut hatten, wahrscheinlich drüben in ihrem Mausoleum im Grabe umdrehten. Für diesen Umbau, sinnierte Markby, während er verräterische Dellen und Unebenheiten im Putz betrachtete, waren einige tiefgreifende interne Strukturänderungen erforderlich gewesen. Er war überrascht, dass Conway die dazu zweifellos erforderliche Baugenehmigung erhalten hatte. Das Haus stand sicher auf der Liste der denkmalgeschützten Gebäude. Auf der anderen Seite fanden Männer wie Conway immer einen Weg, ihren Willen durchzusetzen.
»In welcher Branche ist Mr. Conway eigentlich tätig?«, erkundigte sich Markby bei Maria Lewis.
»Computertechnologie, Im- und Export«, informierte sie ihn herablassend. Es gefiel ihr offensichtlich nicht, wie er sich in Conways Büroräumen umsah.
»Tatsächlich? Ich habe schon öfters überlegt, ob ich mir nicht einen von diesen kleinen Laptops zulegen soll. Wirklich sehr nützliche Maschinen.«
»Die Art von Technologie, mit der wir handeln«, sagte sie in vernichtendem Tonfall,
»ist hauptsächlich für große institutionelle Forschungseinrichtungen oder Krankenhäuser bestimmt. Wenn Sie einen Augenblick warten würden, ich sehe nach, ob Mr. Conway Zeit hat.« Sie klapperte auf ihren Stilettos davon. Unwillkürlich blieben Markbys Blicke auf den langen, schwarz bestrumpften Beinen haften, und er wusste, dass sie es wusste. Einige Sekunden später war sie zurück.
»Mr. Conway wird Sie empfangen. Hier entlang bitte.«
»Könnte ich bitte meinen Dienstausweis zurückhaben?« Er streckte die Hand aus.
»Oh, selbstverständlich.« Purpurne Krallen ließen die kleine Plastikkarte in seine Handfläche fallen wie ein Stück Abfall, das eigentlich für den Papierkorb bestimmt gewesen war.
Conway erhob sich zur Begrüßung hinter seinem Schreibtisch, als Markby eintrat. Er war ein attraktiver, leicht übergewichtiger Mann mit einem grauen Haaransatz an den Schläfen. Er kam Markby müde vor, doch er begrüßte seinen Besucher freundlich.
»Danke sehr, Maria. Kommen Sie herein, Chief Inspector! Was kann ich für Sie tun? Wären Sie so freundlich, Maria, uns Kaffee zu bringen? Oder ziehen Sie Tee vor?«
»Tee, bitte.« Markby spürte seinen noch immer aufrührerischen Magen, und er wusste, dass sein Atem wahrscheinlich nach Pfefferminz roch. Besser nach Pfefferminz als nach Schweinen.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie belästigen muss. Ich fürchte, wir haben auf einem Teil Ihres Grundbesitzes zu tun. Ich hätte Sie schon früher aufgesucht, doch ich musste vorher dringend nach Bamford zurück. Wir werden versuchen, Ihnen so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich zu machen. Unglücklicherweise sieht es ganz danach aus, als wäre das Devaux-Mausoleum am Donnerstagabend Schauplatz eines Kapitalverbrechens gewesen. Wir haben das Gelände abgesperrt, was bedeutet, dass Sie für eine Weile nicht dorthin können. Ich hoffe doch, dass es keine allzu großen Unannehmlichkeiten bereitet?«
Matthew blinzelte verwirrt.
»Unmöglich! Ich meine, was denn für ein Verbrechen? Dieses grässliche Gewölbe ist abgesperrt, und das seit Jahren! Wir gehen nie dorthin. Niemand geht je dorthin!«
»Irgendjemand schon. Die Tür war nicht abgesperrt, und das Schloss ist frisch geölt.« Matthew schüttelte noch immer ungläubig den Kopf.
»Ich kann das einfach nicht glauben. Sie meinen doch wohl nicht …« Er hantierte mit den Papieren auf seinem Schreibtisch.
»… Schwarze Messen? Satanische Riten vielleicht? Pentagramme und dieser ganze Unsinn?«
»Keinesfalls.« Markby musterte ihn neugierig.
»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«
»Na ja, wegen … eben weil es ein Mausoleum ist. Man liest ja so viel in den Zeitungen …«
»Ich verstehe. Nein, leider viel schlimmer, fürchte ich. Es hat einen Todesfall gegeben.«
»O mein Gott!«, flüsterte Conway.
»Sie reden doch wohl nicht von Mord?« Hinter ihnen ertönte das Klappern von Porzellan. Markby wandte den Kopf. Maria stand in der Tür und hielt ein Tablett mit Tassen. Sie hatte die Unterhaltung offensichtlich mitbekommen, wirkte aber nicht überrascht. Markby vermutete, dass eine ganze Menge nötig war, um die eiserne Gelassenheit dieser Lady ins Wanken zu bringen. Sie wirkte allerdings misstrauisch – und neugierig zugleich. Als sie bemerkte, dass beide Männer sie anstarrten, setzte sie sich rasch in Bewegung und brachte das Tablett herbei. Markby schätzte, dass die Tassen echte Coalports waren, doch eine Teekanne fehlte. Stattdessen baumelten dünne weiße Schnüre mit Etiketten von den Tassenrändern, und in den Tassen bemühten sich kleine Beutelchen nach Kräften, dem Wasser eine goldene Färbung zu verleihen. Es gab ein Milchkännchen und Zitronenscheiben sowie ein paar winzige Tütchen mit Süßstofftabletten. Markby war ein Anhänger echten Tees, mit einem Löffel pro Tasse plus einem für die Kanne, und das Ganze gründlich ziehen lassen, und er warf einen düsteren Blick auf das Tablett.
»Danke sehr, Maria«, sagte Conway schwer. Sie machte Anstalten zu gehen, doch Markby rief:
»Warten Sie, einen Augenblick bitte. Vielleicht könnte Ihre Assistentin ein paar Minuten bleiben? Ich habe ein paar Fragen, und jeder von Ihnen kann mir möglicherweise weiterhelfen. Fangen wir damit an, ob einer von Ihnen beiden oder sonst jemand im Haus in letzter Zeit auffällige Aktivitäten in der Umgebung des Mausoleums bemerkt hat? Oder auf der Straße, die dort vorbeiführt? Insbesondere abends, meine ich, nach Einbruch der Dunkelheit? Lichter vielleicht, oder Geräusche?«
»Mir ist nichts aufgefallen«, sagte Conway und schüttelte heftig den Kopf. Doch Markby schien es, als hätte er einen Augenblick gezögert.
»Ihnen, Maria?«, fragte Conway.
»Nicht das Geringste«, antwortete sie knapp. Sie warf Markby einen Blick zu, der ihn geradezu herauszufordern schien, an ihrer Antwort zu zweifeln.
»Nun, und wie steht es mit den Schlüsseln für das Mausoleum? Wo werden sie aufbewahrt?«
»Ich weiß es nicht.« Matthew warf einen hilflosen Blick zu seiner Sekretärin.
»Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch welche gibt! Es ist Jahre her, dass jemand das Mausoleum betreten hat. Oh, nein, natürlich nicht. Sie behaupten ja gerade das Gegenteil. Aber hören Sie, Chief Inspector: Niemand in diesem Haus hat einen Grund, zu diesem grässlichen Monument zu gehen. Niemand geht auch nur in seine Nähe!«
»Wenn irgendjemand etwas über die Schlüssel weiß, dann Prue«, sagte Maria mit einem Hauch von Bosheit in der Stimme.
»Oh … ja. Unsere Haushälterin«, erklärte Conway.
»Sie ist … sie wird wohl irgendwo im Haus sein.«
»Ich habe am Vordereingang geklingelt, doch niemand hat geöffnet«, berichtete Markby.
»Sie war möglicherweise bei meiner Frau – oder in der Küche.« Conway sah unbehaglich drein.
»Soll ich gehen und sie suchen?« Maria bewegte sich bereits in Richtung Tür. Conway blickte Markby an und nickte.
»Ja. Bitte tun Sie das.« Als sie weg war, reichte er Markby eine Tasse.
»Ich hoffe nur, diese unangenehme Geschichte dringt nicht bis zu meiner Frau durch. Sie ist sehr nervös und erfreut sich nicht der allerbesten Gesundheit. Ich möchte sie nicht unnötig aufregen. Und ganz sicher könnte sie Ihnen nicht helfen. Allein die Vorstellung, dass Fremde sich auf unserem Grundstück … es ist schwierig zu erklären, doch sie wäre entsetzt! Von Mord ganz zu schweigen!« Markby trank von seinem Tee. Er war nicht besonders stark, doch er schien seinen aufgewühlten Magen ein wenig zu beruhigen.
»Ich werde sie dennoch fragen müssen, ob sie etwas Ungewöhnliches in der Umgebung des Familiengrabes gesehen hat.«
»Nein, nein, das sagte ich doch gerade! Sie dürfen nicht!« Conway brüllte fast.
»Sie hat nichts gesehen! Sie kann Ihnen nicht helfen. Sie dürfen sie nicht befragen!« Er verstummte, und seine Stimme hallte in dem großen Raum nach. Er presste die Hände an die Schläfen.
»Es … es tut mir Leid. Aber … meine Frau ist sehr krank, und ein Verhör durch die Polizei kommt überhaupt nicht infrage. Wenn Sie wollen, rufe ich ihren Arzt an, er wird dies in einem Attest bestätigen. Ich möchte Ihre Untersuchung nicht behindern. Mir ist durchaus bewusst, dass ein Mord …« Er stellte seine Tasse klappernd ab.
»Hören Sie, angenommen, ich frage Adeline für Sie, in einem geeigneten Augenblick? Und erzähle Ihnen dann, was sie gesagt hat?«
»Also schön«, erwiderte Markby langsam. Er brauchte die Kooperation der Conways, doch wie es aussah, erhielt er sie nicht ohne Druck.
»Das wird für den Augenblick genügen. Trotzdem werde ich später vielleicht darauf bestehen müssen, Mrs. Conway persönlich zu befragen. Das Gleiche gilt übrigens auch für Ihre Tochter. Ist sie zu Hause?«
»Nein, ist sie nicht, und außerdem …« Conways Gesicht war vorhin bereits rot angelaufen, jetzt wurde es noch dunkler. Jeder weitere Einwand seinerseits wurde allerdings von den klappernden Absätzen Marias unterdrückt, die in diesem Augenblick die Rückkehr der Sekretärin ankündigten. In ihrer Begleitung befand sich eine stämmige Frau mittleren Alters mit einer Schürze voller Mehlstaub.
»Ich bin Prue Wilcox!«, sagte sie energisch.
»Mrs. Lewis sagt, Sie hätten ein paar Fragen. Ich wüsste nicht, was ich Ihnen sagen könnte.« Markby berichtete von dem Mord und wiederholte seine Fragen.
»Ich habe nichts gesehen, aber ich kann Ihnen mit den Schlüsseln helfen. Das heißt, ich kann Ihnen zumindest zeigen, wo sie sein müssten und wo sie bis zuletzt waren. An einem Haken im alten Anrichtezimmer. Dort müssten sie eigentlich immer noch sein. Ich wüsste nicht, wer sie weggenommen haben sollte.«
»Könnten wir hingehen und nachsehen?«, schlug Markby vor. Maria Lewis blieb im Büro zurück. Matthew Conway begleitete Markby und Prue Wilcox ins Haupthaus. Sie kamen durch eine Tür in einer recht neu aussehenden Trennwand. Auf der anderen Seite fiel die Temperatur spürbar um mehrere Grad. Falls es hier eine Zentralheizung gab, dann war sie abgeschaltet. Doch Markby sah nirgendwo Heizkörper. Die Küche dagegen war erfreulich warm. Der Kuchen, den Prue zu backen angefangen hatte, als sie ins Büro gerufen worden war, stand noch auf dem Tisch. Sie führte die beiden Männer in eine große offene Speisekammer mit Steinboden und zeigte auf einen Haken.
»Da sind sie, wo sie sein sollen. Alle beide.« Es waren große, kunstvoll verzierte Schlüssel, richtige Antiquitäten. Markby nahm eine kleine Plastiktüte aus seiner Barbourjacke.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir diese Schlüssel ausleihe?« Sie sahen schweigend zu, wie er die Schlüssel vorsichtig mithilfe einer griffbereit liegenden Röstgabel vom Haken nahm und in die Plastiktüte fallen ließ. Auf einem davon bemerkte er einen verräterischen Fleck. Es schien tatsächlich so, als hätte jemand im Haus den Schlüssel benutzt, um das Mausoleum aufzuschließen.
»Wer hat Zugriff auf diese Schlüssel?«
»Jeder im Haus«, antwortete Prue.
»Und vermutlich Mutchings. Er kommt manchmal her. Allerdings weiß ich nicht, ob er etwas von den Schlüsseln weiß oder eine Ahnung hat, wozu sie dienen. Schwer zu sagen, was Mutchings begreift und was nicht.«
»Das, wozu er gerade Lust hat!«, sagte Matthew säuerlich. Markby rief sich die wilde Gestalt in Erinnerung.
»Mutchings ist der Schweinehirt, wenn ich Sie recht verstehe? Ich bin ihm auf dem Weg hierher begegnet – und den Schweinen. Lebhafte kleine Biester. Ich kenne die Rasse überhaupt nicht.«
»Tamworths«, sagte Conway.
»Sie haben nur die jungen gesehen. Wir sind sehr erfolgreich in der Zucht. Wir beliefern andere Züchter und Liebhaber mit den Jungtieren. TamworthSchweine haben eine Anhängerschar, auch wenn ich mich nicht dazu zähle. Die Zucht wurde vom Großvater meiner Frau gegründet, Sir Rupert Devaux. Das ist der Hauptgrund, warum wir die Tiere noch halten. Das und natürlich die Tatsache, dass wir dadurch Arbeit für Mutchings haben. Er ist der letzte aus einer Familie, die seit Generationen für die Devaux arbeitet, und meine Frau ist der Meinung, wir wären ihm verpflichtet. Er lebt in einem Cottage abseits im Park.« Conway sah, dass sein Besucher eine Frage stellen wollte, und kam ihm zuvor.
»Nicht in der Nähe des Mausoleums, falls Sie das glauben. Auf der anderen Seite des Besitzes, bei den Schweineställen. Ich persönlich empfinde keinerlei Verpflichtung gegenüber Mutchings, weil er überhaupt nichts richtig machen kann. Ganz gleich, was er anfasst, es geht irgendwie schief.«
»Er gibt sich die größte Mühe!«, verteidigte Mrs. Wilcox den Abwesenden.
»Und er ist ein sehr guter Schweinehirte. Das ist auch der Grund, warum die Tiere sich so prächtig entwickeln.«
»Wie ich schon sagte«, unterbrach Conway sie irritiert,
»wenn es nach mir ginge, wären diese lärmenden kleinen Bestien längst Koteletts, und Mutchings könnte woanders sein Chaos veranstalten! Wenn ihn jemand anderes überhaupt nehmen würde, heißt das!« Markby hatte eine ganze Reihe von Fragen auf den Lippen, doch in ihm regte sich das starke Gefühl, dass er die Anwesenden damit nur unnötig quälen würde und letzten Endes nichts dabei herauskäme. Er beschloss, sich einstweilen zufrieden zu geben.
»Ich danke Ihnen fürs Erste. Wir werden uns wieder bei Ihnen melden. Sie denken daran, Ihre Frau zu befragen?«
»Was fragen?«, fauchte Prue.
»Schon gut, Prue, ich erzähle es Ihnen später.« Er warf Markby einen gehetzten Blick zu.
»Sie darf sich auf keinen Fall aufregen oder Sorgen machen!«, beharrte Prue herausfordernd.
»Sie werden Ihr nichts von diesem elenden Mausoleum erzählen! Sie würden die arme Seele nur in Angst versetzen, und sie kann Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen! Sie geht niemals aus dem Haus. Dr. Barnes kann Ihnen das bestätigen.«
»Ich hoffe sehr«, sagte Markby,
»dass wir niemanden über Gebühr in Angst versetzen müssen.«
Vor dem Haus blieb Markby bei seinem Wagen stehen und ließ den Blick über die bröckelnde Fassade schweifen. Also war Mutchings der Letzte seiner Linie, genau wie Adeline Conway, geborene Devaux, die Letzte aus ihrer Familie. Ein merkwürdiges Gefühl überkam Markby, ein Gefühl von der Unausweichlichkeit des Schicksals, von Dingen, die sich ihrem Ende näherten. Mutchings und seine Schützlinge waren verschwunden. Das
Gelände war weitläufig, und die Tiere konnten überall sein. Außerdem deutete das, was er über den Mann gehört hatte, nicht unbedingt darauf hin, dass er ein verlässlicher Zeuge war, ganz sicher kein Zeuge, den man vor Gericht präsentieren konnte. Nichtsdestotrotz machte sich Markby mit einem Seufzer auf den Lippen auf, um den Schweinehirten zu suchen. Die Tiere würden sich sicher durch ihr Gequieke verraten.
Tatsächlich fand er Mutchings bei den Schweinen. Markbys Weg führte ihn zu einer wirren Ansammlung von Schuppen, in denen offensichtlich die Schweineställe untergebracht waren, und daneben, wie beschrieben, stand ein Cottage. Als Markby sich näherte, erschien Mutchings in der Tür.
»Was machen Sie hier? Ich dachte, Sie hätten oben beim
Haus zu tun?«
»Ich bin für den Augenblick dort fertig. Ich würde mich gerne kurz mit Ihnen unterhalten.«
»Das hier ist alles Privatbesitz!«, sagte Mutchings und schwenkte die überlangen Arme einmal in die Runde.
»Wenn Sie hier rumlaufen wollen, fragen Sie zuerst Mrs. Conway.«
»Ich bin Polizeibeamter«, entgegnete Markby entschieden.
»Und ich würde mich gerne mit Ihnen über diese Begräbniskapelle unterhalten. Gehen Sie hin und wieder dort hin, beispielsweise um nachzusehen, ob das Gebäude Schäden erlitten hat? Oder um es Besuchern zu zeigen?« Mutchings wirkte erschrocken.
»Ich gehe nie auch nur in die Nähe! Ich hab gehört, wie sie dort drinnen spuken, die alten Devaux! Sie rufen nach mir, aber ich antworte nie! Sie würden mich packen und mit zu sich nach unten ziehen, in ihr Grab, wenn ich zu nahe komme!«
»Wann haben Sie die Rufe gehört, Mutchings? Zu welcher Tageszeit, meine ich?« Der Schweinehirt schien zu überlegen.
»Abends, wenn ich die Schweine zusammentreibe. Manchmal streunen die nämlich dort rüber.«
»Haben Sie schon mal Lichter in der Nähe gesehen? Einen Wagen, der dort geparkt hat?« Mutchings sah bereits verwirrt aus.
»Ich kann mich nicht erinnern! Ich renne immer so schnell wie möglich weg! Ich bleib nicht da, wenn ich nicht muss!«
»Also haben Sie nie die Tür aufgesperrt? Den Schlüssel ausgeliehen und jemand anderem gegeben?«
»Nie! Ich war noch nie da drin!« Mutchings fuchtelte panisch mit den Armen.
»Ich halt mich fern von dieser Kapelle! Ich weiß überhaupt nichts von einem Schlüssel! Ich muss die Schweine füttern! Ich muss jetzt wieder arbeiten!« Er wandte sich um und marschierte davon. Markby ließ ihn gehen und kehrte zum Haus und seinem Wagen zurück. Etwas Purpurnes bewegte sich unter dem Vordach und erregte seine Aufmerksamkeit. Maria Lewis trat hinter einer Säule hervor und beobachtete ihn von der breiten Treppe herab. Sie schien dort auf ihn gewartet zu haben und wollte offensichtlich von niemandem sonst gesehen werden. Sie klapperte auf ihren Stilettos zu ihm herab und hielt dabei die Arme leicht nach rechts und links ausgestreckt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Eine steife Brise zerzauste ihr platinblondes Haar, wo es nicht von dem Band zusammengehalten wurde. Markby fragte sich, ob es gebleicht war. Wohl nicht ganz, angesichts ihres blassen Teints und der hellen Augen; wahrscheinlich hatte sie nur ein wenig nachgeholfen. Er fragte sich, ob sie gekommen war, um ihm zu helfen – nur ein wenig.
»Ich dachte, Sie sollten erfahren«, begann sie und ersparte sich alle überflüssigen Vorreden,
»dass sie verrückt ist.«
»Sie?« Markby ahnte die Antwort bereits, doch er war gespannt, was Maria zu ihrer Aussage bewogen hatte. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau, die Informationen freiwillig und ganz ohne Hintergedanken weitergab.
»Adeline. Die ganze Devaux-Sippe. Vollkommen übergeschnappt! Das ist der Grund, warum niemand will, dass Sie mit ihr reden! Ganz davon abgesehen, würde es Ihnen auch nicht weiterhelfen. Sie könnten schließlich nicht wissen, ob das, was sie Ihnen erzählt, den Tatsachen entspricht oder ihrer wirren Fantasie entspringt. Sie wandert des Nachts durchs Haus wie Lady Macbeth. Ich weiß nicht, ob Matthew das weiß, aber er weiß, dass sie krank ist und eigentlich in ein Sanatorium gehört. Aber unter den gegebenen Umständen ist es recht schwierig …« Markby blickte vielsagend an der Fassade empor.
»Sie meinen, das Haus gehört ihr?«
»Ihr gehört alles, aber sie hat nicht einen Penny Bares. Deswegen hat sie Matthew geheiratet. Um das Heim der Familie zu retten. Und jetzt kann er sie nicht aus ihrem eigenen Haus werfen. Prue kümmert sich um sie. Sie hat Erfahrung als Krankenschwester.« Nachdenklich fragte Markby:
»Würde Conway das Haus erben, wenn sie stirbt?« Die Frage entsprang alleine seiner Abneigung gegen den verwahrlosten Zustand, in dem sich alles befand. Er überlegte, ob Matthew das Anwesen renovieren lassen würde, falls er freie Hand hätte. Doch Maria schüttelte den Kopf.
»Nein, es fällt alles an ihr Kind. Sie haben eine Tochter.« Der lippenstiftbemalte Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen.
»Ein total verzogenes Balg.«
»Ich verstehe. Nun, vielen Dank, Mrs. Lewis.«
»Kein Problem«, erwiderte sie und wandte sich zum Gehen. Auf dem Weg zum Tor überlegte Markby, welche Bedeutung er diesen Informationen beimessen sollte, falls überhaupt. Fast schon zu spät fiel ihm ein, nach den Schweinen Ausschau zu halten. Gerade als er über das Viehgitter ratterte, blickte er in seinen Rückspiegel und sah die Tiere. Es war ein lebhaftes, komisches und eigenartig beunruhigendes Bild, das Markby in dem schmalen Rechteck gespiegelter Realität sah. Mutchings wedelte mit einem Eimer, in dem sich wahrscheinlich Futter befand, und rannte über den Weg. Die Herde folgte ihm dicht auf den Fersen und quiekte laut ihre Forderungen. Mit einem letzten, linkischen Sprung verschwand Mutchings in einer Lücke zwischen den Buchsbaumbüschen, gefolgt von den Schweinen. Markby fragte sich, ob es ein Spiel war, das er mit seinen Schützlingen spielte. Während er vorsichtig das Viehgitter hinter sich brachte, kam ihm der Gedanke, dass Mrs. Conway, geborene Devaux, möglicherweise nicht die einzige Person auf dem Anwesen von Park House war, deren mentaler Zustand fragwürdig schien.
»Und du bist sicher, dass du nichts essen möchtest?«, fragte Meredith.
»Ganz ehrlich nicht. Barney Crouch hat mich vollgestopft, und ich hab mich immer noch nicht wieder erholt. Iss du nur, wenn du hungrig bist.«
»Ich? Nein. Ich hab mit deinem neuen Sergeant in der Stadt zu Mittag gegessen. Und ich hab den ganzen Nachmittag gestrichen. Der Gestank verdirbt einem den Appetit.«
Sie saßen in Merediths winzigem Wohnzimmer auf dem Sofa vor dem Fernseher, aber keiner von beiden beachtete das Programm. Es war warm und spät, und beide waren müde. Markby hatte die Beine in Richtung Gasfeuer ausgestreckt, und Meredith saß neben ihm, mit dem Rücken an seine Schulter gelehnt, die Füße auf einem Kissen.
»Und?«, fragte er.
»Wie bist du mit Turner zurecht gekommen?«
»Ausgesprochen gut. Sie ist nett. Sie hat einen Sinn für Humor, der mir gefällt.«
»Tatsächlich? Sie erscheint mir eigentlich als schrecklich angespannte junge Frau. Allerdings hat sie ihre Arbeit bei den Wills’ heute ziemlich gut gemacht.« Er rutschte ein wenig zur Seite und wechselte das Thema.
»Wie kommst du mit dem Anstreichen voran?«
»Ich bin mit den Wänden fertig. Morgen werde ich mir die Leisten vornehmen. Ich glaube, ich freue mich schon auf Montag, wenn ich wieder zur Arbeit muss.«
»Gar keine schlechte Leistung, die Wände an einem Tag ganz alleine zu streichen!« Meredith verzog das Gesicht.
»Ich hatte ein wenig Hilfe. Jedenfalls glaube ich, dass es Hilfe war.« Sie erzählte ihm von Katie und war überrascht, als er sich ruckhaft aufsetzte, sodass sie fast vom Sofa gefallen wäre.
»Conway? Katie Conway? Ich war heute in Park House. Das ist ein ziemlich außergewöhnlicher Haushalt.«
»Ist es das? Ich hatte auch den Eindruck, dass das Leben bei Katie zu Hause alles andere als friedlich verläuft. Sie hat Probleme mit ihren Eltern, und sie ist damit zu mir gekommen – oder zumindest hat sie es versucht. Ich schätze, ich habe mir das selbst zuzuschreiben, nach meinem Vortrag im Jugendclub und meinen Geschichten über waghalsige Abenteuer in fremden Ländern. Es soll mir jedenfalls eine Lehre sein! In Zukunft werde ich mein Licht gehörig unter den Scheffel stellen!«
»Sie halten Schweine«, erzählte Markby.
»Nicht kommerziell, nicht einmal als Hobby, sondern aus Tradition. Ziemlich eigenartig, findest du nicht? Ich habe mir das Gehirn zermartert und alles hervorgekramt, was ich über Park House weiß, und ich erinnere mich, dass mein Vater mir vor vielen Jahren irgendetwas über einen privaten Zoo oder eine Menagerie auf dem Anwesen erzählt hat. Wer dort vorbeikam, konnte die Tiere hören, und wer nichts von dem Zoo wusste, bekam einen heiligen Schrecken, besonders des Nachts. Stell dir vor, du wanderst im Dunkeln über die Landstraße, und plötzlich brüllt irgendwo ganz nah ein Löwe!«
»Haben sie allen Ernstes Löwen gehalten?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, gestand Markby und runzelte die Stirn.
»Aber selbst heute noch kann ein einsamer Fußgänger sich erschrecken, wie der gute alte Barney und sein Abenteuer beim Mausoleum beweisen. Eine merkwürdige Geschichte, und ich würde zu gerne mehr darüber erfahren. Was hat Katie dir erzählt?« Meredith wiederholte Katies Bericht.
»Ich weiß nicht, ob ihr Vater eine Geliebte hat oder wer diese Maria ist, und ich weiß auch nicht, was mit Mrs. Conway nicht stimmt.«
»Maria Lewis ist Conways persönliche Assistentin. Eine sehr elegante und effiziente Person, würde ich sagen. Sie hat wahrscheinlich ein Auge auf ihren Boss geworfen. Sie würde Mrs. Conway nur zu gerne aus dem Haus und in einer Klinik oder einem Sanatorium sehen. Ich vermute, Adeline Conway hat ein Nervenleiden. Weder ihr Ehemann noch die Haushälterin, die gleichzeitig als Krankenschwester zu fungieren scheint, wollten, dass ich mit ihr rede. Maria Lewis hat mir unter vier Augen mitgeteilt, dass sie Mrs. Conway für verrückt hält. Aber wie gesagt, Maria ist keine unbeteiligte Dritte. Ich denke, sie hat sogar ein ausgesprochenes Interesse daran, ihre Konkurrentin aus dem Weg zu räumen – selbstverständlich nur zu deren eigenem Bestem.«
»Und zu Marias Vorteil. Hmmm. Die arme kleine Katie. Sie hat also wirklich Probleme, und ich fange an, mich schuldig zu fühlen. Vielleicht hätte ich sie anhören sollen. Aber ich hätte nichts tun können. Sie schien zu glauben, ich könnte einfach zu ihren Eltern spazieren und Adeline und Matthew Conway einen Vortrag halten. Es würde mich nicht weiter überraschen, wenn Katie einen weiteren Versuch unternimmt, mich zu überreden. Sie ist eine entschlossene junge Lady, trotz ihres unschuldigen Äußeren.«
»Vergiss nicht, dass ihre Mutter einer langen Reihe reicher Exzentriker entstammt, die sich jeden Wunsch erfüllen konnten, angefangen bei privaten Mausoleen bis hin zu Schweinen im Gebüsch. Eines Tages wird sie die Schlossherrin von Park House sein! Maria Lewis hat sie als ein total verzogenes Balg beschrieben.«
»So schlimm ist sie nicht!«, widersprach Meredith entrüstet.
»Es gefällt mir nicht, wie diese Maria redet. Obwohl ich der Fairness halber zugestehen muss, wenn Katie die persönliche Assistentin ihres Vaters tatsächlich nicht mag, dann wird sie das sicher jeden deutlich spüren lassen. Wenn Maria sich wirklich Matthew Conway angeln will, muss sie vorher wohl nicht nur seine Frau Adeline aus dem Weg räumen.« KAPITEL 10 Helen Turner war an jenem Samstagnachmittag weniger erfolgreich gewesen als Markby. Nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass die Wills nach Hause begleitet wurden, war sie zu den Mietshäusern gefahren, wo Nikki wohnte. Es waren recht neue, aber billige Bauten, an denen sich bereits der erste Verfall zeigte. Farbe blätterte von der Fassade, und irgendwo musste es einen heftigen Wasserrohrbruch gegeben haben, denn neben dem Haupteingang zog sich ein langer Wasserfleck über die Wand. Die Tür war unverschlossen, und bei ihrem Eintreten fand Helen ein ältliches Mannweib vor, beladen mit zwei prallen Einkaufstaschen und im Begriff, die Wohnungstür im Erdgeschoss aufzuschließen.
»Die Arnolds«, sagte die Dame.
»So heißt die Familie, die Sie suchen. Nikki Arnold. Ein richtiger kleiner Rabauke ist dieses Mädchen! Spielt ununterbrochen ihre Popmusik und stört den gesamten Block! Ich hab es ihr gesagt, und sie hat mir mit Worten geantwortet, dass mir die Schamröte ins Gesicht gestiegen ist! Ich bezweifle, dass sie älter ist als fünfzehn. Pack! Aber ich schätze, es ist kein Wunder, bei so einer Mutter. Die Treppe hoch, zweiter Stock. Aber Sie werden niemanden antreffen, nicht samstags. Gott weiß, wohin sie verschwinden, aber samstags sind sie immer weg. Der einzige friedliche Tag, den ich in der ganzen Woche habe. Sie wohnen nämlich direkt über meinem Kopf.« Sie deutete zur Decke.
»Versuchen Sie’s morgen wieder, so gegen zwölf. Nicht früher, weil die Arnolds nie vor elf aufstehen. Und dann läuft direkt diese Musik! Ich wünschte wirklich, sie würden ausziehen.« Helen stieg die Treppe hinauf und klingelte, doch niemand öffnete. Also kam sie am nächsten Tag gegen zwölf wieder, im Bewusstsein, dass Mrs. Pride sie um ein Uhr zum Mittagessen erwartete, pünktlich,
»wegen des Bratens«. Sonntags gab es kein Abendessen, nicht, wenn Mrs. Pride bereits mittags eine anständige Mahlzeit servierte. Mehr noch, dieser eigenartige alte Bursche, Barney Crouch, würde ebenfalls zum Essen erscheinen. Helen hatte ihn bereits als einen Bewunderer von Mrs. Pride eingestuft, obwohl Bewunderer ihrer Kochkünste die Sache wahrscheinlich besser traf. Barney seinerseits schöpfte aus einem großen Reservoir amüsanter Geschichten aus dem Theaterleben, die er allerdings nicht immer zu Ende erzählen durfte. Oft unterbrach ihn Mrs. Pride, die wohl glaubte, Helen könne sich schockiert zeigen. Als könnte sie noch irgendetwas auf der Welt schockieren! Helen verzog das Gesicht. Die Arnolds waren jedenfalls da, und sie waren bereits aufgestanden, denn Helen hörte schon unten am Treppenabsatz die laute Musik. Sie klingelte zweimal lange an der Tür und stand bereits im Begriff, ein drittes Mal zu läuten, für den Fall, dass niemand sie über all dem Lärm gehört hatte, als eine weibliche Stimme rief:
»Warte mal, da ist jemand an der Tür.« Es gab ein protestierendes Knarren, und die Wohnungstür wurde umständlich geöffnet. Ein Schwall heißer Luft schlug Helen ins Gesicht, staubiger heißer Luft von Radiatoren, die auf vollen Touren liefen, durchsetzt vom Gestank nach kaltem Rauch, billigem Parfüm, Curry und frittiertem Essen. Eine aufgedunsene, erhitzt wirkende Rothaarige in türkisfarbenen Leggings und weißem Sweatshirt mit einem aufgedruckten Hundewelpen materialisierte in der Öffnung und fixierte Helen mit Augen wie aus grünem Eis.
»Hallo Süße«, sagte sie heiser.
»Was gibt’s denn für’n Problem, eh? Die Musik? Das Kind hat eben Spaß dran, in Ordnung?« Eine Pause entstand.
»Das verdammte Gesetz«, fuhr die Rothaarige resignierend fort.
»Ich hätt’s mir denken können. Dieses alte Elend unter uns, wie? Jede Wette, sie hat sich beschwert. Ich kann nichts dafür, wenn die Wände dünn sind wie Papier!«
»Nein, Mrs. Arnold. Es geht um etwas anderes.« Helen hielt ihr ihren Dienstausweis hin.
»Ich war gestern bereits hier, aber Sie waren nicht zu Hause.«
»Ich weiß …« sagte Mrs. Arnold und überflog den Ausweis mit einem verächtlichen Blick,
»ich weiß nix von überhaupt nix. Warum sollt ich? Wir waren gestern alle im Kino, ich, Nikki und ein Freund von mir. Hinterher hat er uns zum Chinesen eingeladen. Wir haben uns prächtig amüsiert, und wir haben Zeugen. Ist neuerdings doch wohl nicht illegal, sich samstags ein wenig zu amüsieren, oder?« Dann schien sie sich unvermittelt an die grundlegenden Höflichkeitsregeln zu erinnern und trat zur Seite, um Helen hereinzubitten.
»Na, dann kommen Sie mal rein, wenn Sie schon da sind.« Helen betrat die unordentliche kleine Diele. Mrs. Arnold schloss die Wohnungstür mit einem heftigen Stoß ihrer Schulter.
»Sie tut’s einfach nicht mehr, seit ein anderer Freund von mir sie letzte Weihnachten eingetreten hat«, erklärte sie.
»Er hatte einen oder zwei über’n Durst getrunken. Um was geht’s denn?«
»Offen gestanden bin ich gekommen, um mit Nikki zu reden.« Mrs. Arnolds Augen glitzerten schlagartig wieder wie grünes Eis.
»Sie hat nix angestellt. Lassen Sie meine Nikki in Ruhe!«
»Ich möchte sie wegen einer ihrer Freundinnen befragen. Es ist sehr wichtig.« Mrs. Arnold kaute auf ihrer purpurnen Unterlippe, sodass Lippenstift auf ihren oberen Schneidezähnen haften blieb.
»Nik!«, kreischte sie ohne Vorwarnung. Die Musik dröhnte weiter. Mrs. Arnold hämmerte an die Tür des Zimmers ihrer Tochter.
»Nik! Dreh diesen verdammten Krach runter! Wir verstehen hier draußen unser eigenes Wort nicht mehr! Komm raus! Hier draußen ist ’ne Polizeibeamtin, die mit dir reden will! Von der Kripo!« Abrupt wurde die Musik ausgeschaltet. Die Tür öffnete sich, und ein junges Mädchen schob sich nach draußen in die Diele. Sie war eine jüngere Version ihrer Mutter, bis hin zu dem Sweatshirt mit dem Hundemotiv. (Wahrscheinlich, dachte Helen Turner, war ein anderer Freund von Mrs. Arnold in den Besitz eines ganzen Kontingents dieser Sweatshirts gekommen, und bitte keine Fragen!) Helen bemerkte Nikkis verängstigten Blick und lächelte beruhigend.
»Ich habe nichts angestellt!«, murmelte Nikki.
»Natürlich nicht, Darling!«, gurrte ihre Mutter heiser.
»Natürlich hat sie nix angestellt!«, wiederholte sie entschieden, diesmal an Helen gewandt.
»Es geht um Lynne Wills, Nikki. Wusstest du, dass sie tot ist?« Nikkis Gesicht wurde leichenblass.
»Das arme kleine Ding«, sagte Mrs. Arnold.
»Gestern Abend noch haben wir darüber geredet. Ihre Leute mussten zur Polizei und den Leichnam identifizieren. Man sollte wirklich meinen, es gäbe eine andere Möglichkeit! Ich hoffe, dass Sie den Mistkerl kriegen! Möchten Sie vielleicht ’nen Kaffee?« Irgendwie waren sie im Verlauf der Unterhaltung durch die Diele in Richtung des noch unordentlicheren Wohnzimmers gewandert. Alles war voll mit nicht gespültem Geschirr und allgemeinem Müll. Helen lehnte das großzügige Angebot ab und nahm auf dem saubersten der freien Sessel Platz. Nikki setzte sich auf das Sofa, nachdem sie einen Stapel Wäsche und Magazine beiseite geschoben hatte. Mrs. Arnold zündete sich eine Zigarette an und stützte sich mit einem Ellbogen auf die Hand des anderen Arms.
»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte Nikki fast unhörbar leise.
»Ich hab Lynne letzten Donnerstag nicht gesehen. Ich hab bei ihr zu Hause angerufen und ihr gesagt, dass ich abends nicht mit ihr ausgehen kann.«
»Das wissen wir bereits. Aber du warst Lynnes Freundin, nicht wahr? Ihr seid doch normalerweise zusammen ausgegangen. Was habt ihr gemacht, wenn ihr ausgegangen seid?«
»Das Übliche. Manchmal sind wir zum Jugendclub gegangen, wenn es einen Gig gab. Oder haben mit unseren Freunden rumgehangen.«
»Wart ihr auch in den einheimischen Lokalen?«
»Sie hat immer nur Orangensaft getrunken!«, krächzte Mrs. Arnold.
»Meine Nikki rührt keinen Alkohol an, stimmt’s, Nik?«
»Ja, Mama, das stimmt«, sagte Nikki wenig überzeugend.
»Weißt du vielleicht, ob Lynne sich an jenem Abend mit jemandem treffen wollte?« Nikki hämmerte sich mit geballten Fäusten auf die Knie und rief in einem leidenschaftlichen Ausbruch:
»Ich weiß es nicht! Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich es nicht weiß!«
»Ruhig, Nik, nur ruhig«, sagte ihre Mutter.
»Sehen Sie? Sie kann Ihnen nicht helfen.« Um mit Nikki vernünftig reden zu können, musste sie zuerst von ihrer Mutter getrennt werden.
»Welche Schule besuchst du?«, fragte Helen beiläufig. Nikki blickte sie misstrauisch an.
»Das Bamford Community College, warum?« Sie schwänzt die Schule!, dachte Helen. Sie erhob sich.
»Es tut mir leid wegen deiner Freundin, Nikki. Es muss ein schlimmer Schock für dich sein.«
»Für uns alle!«, sagte Mrs. Arnold durch eine Rauchwolke hindurch.
»Die jungen Mädchen sind nicht sicher auf unseren Straßen! Diese Männer, die ihnen überall auflauern, sie gehören ins Gefängnis oder kastriert, wie streunende Katzen, wenn Sie meine Meinung wissen wollen!« Als Mrs. Arnold Anstalten machte, die widerspenstige Wohnungstür zu öffnen, fragte Helen:
»Wohnt Mr. Arnold eigentlich noch bei Ihnen?«
»Selbstverständlich nicht!«, empörte sich seine Frau.
»Wir waren noch Kinder, als wir geheiratet haben! Ich war gerade sechzehn! Es hat nur ein Jahr gedauert. Er war nicht Nikkis Vater. Er hat sich einfach abgesetzt. Männer sind so, oder? Bleiben nie lange genug irgendwo, um die Rechnung zu bezahlen. Ich habe seinen Namen behalten, weil ich ihn schöner fand als den Namen, mit dem ich geboren wurde!«
»Oh, und wie war Ihr Mädchenname?«, fragte Helen neugierig.
»Mutchings.« Die Tür flog auf und katapultierte Mrs. Arnold in Helens Arme,
»’tschuldigung, Schätzchen. Das passiert, wenn man nicht ständig auf der Hut ist mit dieser Tür. Ja, ich bin eine geborene Mutchings. Eigenartiger alter Name, finden Sie nicht auch?«
»Haben Sie vielleicht ein paar Pennys?«
Die Sprecherin war ein junges Mädchen mit teigigem Gesicht und scharf blickenden Augen. Sie war einigermaßen sauber und anständig gekleidet, ohne dieses verwahrloste Äußere, das diejenigen kennzeichnet, die wirklich ganz unten angekommen sind.